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Letzte Instanz

Letzte Instanz

Titel: Letzte Instanz
Autoren: Marcia Muller
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Wingfield und Leonard Eyestone sahen mit
blassen und besorgten Mienen von links herüber. Hinter ihnen stand Adah Joslyn.
Auf der anderen Seite musterte Bart Wallace mit zusammengekniffenen Augen
Joseph Stameroff. Etwa einen Meter hinter den beiden sah ich Rae und Hank.
    Plötzlich fiel mir ein Traum aus frühen
Morgenstunden ein, als ich auf der Couch gedöst hatte. Judy kniete neben den
Grundmauern des Taubenhauses, und Jack und ich sahen ihr zu. Sie sagte, sie
habe Angst, und Jack antwortete: ›Nur weil es das letzte Mal so passiert ist,
muß es diesmal nicht wieder so sein.‹ Und ich hatte gesagt: ›Die Wahrheit
ändert sich nicht.‹ Darauf Judy: ›Ich habe Angst.‹ Und so hatte sich die
Unterhaltung immerfort um sich selbst gedreht.
    Heute wirkte Judy, eingehüllt in das
schwarze Cape ihrer Mutter und den blonden Kopf hoch erhoben, gar nicht
ängstlich. Als Jack zu Ende war und ihr zunickte, drehte sie sich um und führte
uns ins Haus.
    Drinnen war es kälter als draußen — es
war diese tote, alles durchdringende Kälte, die man in lange leerstehenden
Häusern findet. Im Licht der Wandleuchten sah man einen abgetretenen
Holzfußboden und hohe, gewölbte Decken mit Basreliefs. Über dem Bogen der
geschwungenen Treppe hing ein schmiedeeiserner Kronleuchter, der aber nicht
eingeschaltet war.
    Judy blieb stehen und sah sich um.
Schien unter ihrem Cape die Arme um sich zu schlingen — mehr wohl, um sich
gegen die Erinnerung zu schützen als gegen die Kälte. Sie sagte leise etwas,
und Richter Valle forderte sie auf, lauter zu sprechen.
    »Ich sagte, die Beleuchtung stimmt so.
Diese Wandleuchten waren immer die ganze Nacht an.« Sie ging auf die Treppe zu,
berührte leicht den untersten Pfosten und stieg dann die Stufen hinauf.
    Der Gang im ersten Stock war breit und
zur Treppe mit einem Geländer gesichert. Judy zögerte erneut und sah den Gang
entlang. Dunkle Türen unterbrachen in regelmäßigen Abständen die
hellgestrichenen Wände. Am Ende befand sich eine Flügeltür, die wahrscheinlich
in eine große Suite führte. Judys Blick blieb einen Augenblick an ihr hängen.
Dann tippte sie sich mit dem Finger an die Braue und schüttelte den Kopf, als
solle er klar werden. Dann blickte sie schnell in die andere Richtung, wo die
nächste Treppe begann.
    Was hatte das nun zu bedeuten? Der
Ansatz einer wiederkehrenden Erinnerung?
    Wir folgten Judy die Treppe hinauf. Der
Gang im zweiten Stock war schmaler. Hier öffneten sich nach beiden Seiten
Türen. Das Zimmer, in das Judy uns führte, war klein — wohl ursprünglich als
Dienstbotenzimmer gedacht — und hatte eine schräge Decke. Aus dem Gaubenfenster
fiel der Blick auf nebelverhangene Kiefernwipfel. Judy schaute hinaus.
    Jack folgte ihr. »Es ist der 22. Juni
1956. Du bist zehn Jahre alt und kannst nicht schlafen. Also schaust du aus
deinem Schlafzimmerfenster. Was siehst du?«
    »Es ist neblig. Ich kann kaum die
Lichter der Brücke erkennen. Etwas ist da draußen. Bewegt sich unter diesen
Kiefern. Ich habe Angst.«
    »Warum?«
    »Es ist die Art, wie es sich bewegt. Es
kriecht, als wolle es nicht gesehen werden.«
    »Ist es ein Tier? Oder ein Mensch?«
    »Ein Mensch.«
    Das klang mir zu glatt und einstudiert.
Ich beobachtete die Geschworenen. Einige blickten skeptisch, als hätten sie den
gleichen Gedanken. Als ginge ihnen durch den Kopf, daß Judy einmal
Schauspielerin gewesen war.
    »Was machst du jetzt?« fragte Jack.
    »Ich gehe zurück ins Bett. Aber ich
kann nicht schlafen. Mama hat mich schon vor Stunden ins Bett geschickt. Sie
war krank. Sagte, sie wolle auch zu Bett gehen. Aber jetzt höre ich jemanden an
der Haustür. Geht er hinaus? Vielleicht kommt er herein. Das kann nicht sein — Mama
ist der einzige Mensch im Haus außer mir.«
    Judys Stimme hatte sich verändert. Sie
wurde höher und höher, bis sie den kindlichen Singsang erreicht hatte, an den
ich mich von meiner Dinnerparty her erinnerte. Damals erzählte sie mir, wie sie
Cordys Ring gefunden habe. Ich beobachtete sie genau und wollte herausbekommen,
ob das hier auch einstudiert war oder ob es tatsächlich aus ihrer Erinnerung
kam.
    »Was tust du jetzt?« fragte Jack
wieder. Aus seinem Ton konnte ich nicht heraushören, ob ihre Veränderung ihn
überrascht hatte.
    »Ich ziehe mir die Decke über den Kopf.
Ich habe Angst ganz allein hier oben, weil der Mann da draußen ist.«
    »Der Mann ?« Jetzt war Jack
anzuhören, daß ihn die Antwort überrascht hatte. Ein paar Geschworene
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