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Letzte Ernte. Ein kulinarischer Krimi

Letzte Ernte. Ein kulinarischer Krimi

Titel: Letzte Ernte. Ein kulinarischer Krimi
Autoren: Tom Hillenbrand
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Decke gegangen. Wenn du es mir nicht glaubst, dann guck dir die Notierung an der Matif an.« Die Matif war die Pariser Rohstoffbörse, an der die Preise für Weizen, Schweinehälften oder Sojabohnen festgelegt wurden – und auch die für Kartoffeln. Alle Großhändler orientierten sich an den Kursen, die dort täglich festgelegt wurden.
    »Ich zweifle nicht an deinen Worten, Wolfgang. Aber der doppelte Preis …«
    »… vielleicht hätte ich dich nach Bestelleingang noch mal anrufen sollen, Xavier. Tut mir leid. Aber wenn du so große Mengen benötigst, solltest du dir vielleicht einen Future kaufen.«
    »Einen was?«
    »Eine Kaufoption, die dir garantiert, dass du die Ware zu einem vorher fixierten Preis geliefert bekommst. Kann man im Internet machen.«
    Kieffer schnaufte ärgerlich. »Mensch, Wolfgang. Ich wollte Kartoffeln kaufen. Ich bin Koch, kein Börsenhändler.«
    »Es tut mir leid, aber die Lebensmittelpreise schwanken in letzter Zeit wieder sehr stark. Keine Ahnung warum, ich habe mir den Mist nicht ausgedacht. Hör zu: Ich gebe dir zwanzig Prozent auf die Rechnung, weil du so ein guter Kunde bist. Oder meinetwegen nehme ich sie auch zurück. Aber nächstes Mal musst du mir einfach Bescheid sagen, wenn deine Order ein Limit hat, okay?«
    Order? Limit? Nichts davon fand Kieffer okay. Wenn er sich mit derartigem Unsinn hätte herumschlagen wollen, hätte er einen Job bei einer Investmentbank auf dem Luxemburger Kirchberg angenommen, statt Gromperekichelcher zu frittieren. Aber es half ja nichts – keine Kartoffeln, keine Kirmes. Der Koch dankte dem Großhändler für dessen Entgegenkommen und legte auf. Es würden die unprofitabelsten Reibekuchen in der Geschichte der Schueberfouer werden, aber immerhin die besten.
    Kieffer verließ sein Büro und stieg die Treppe ins Obergeschoss hinauf. Das »Deux Eglises«, oder »Zwou Kierchen«, wie es die Einheimischen auch nannten, war nicht sehr groß, das Erdgeschoss bot lediglich dem Schankraum Platz. Die Küche befand sich im ersten Stock. Er und die anderen Köche mussten deshalb viele Male am Tag die dreiundvierzig steinernen Stufen der gewundenen Treppe hinauf- und hinunterklettern. Kieffer machte das nichts aus; Bewegung war schließlich gesund, und dieses Küchenstepping war in Wahrheit neben dem Schleppen von Kartoffelkisten oder Lammkeulen der einzige Sport, den er ausübte.
    Oben instruierte er einen Vorbereitungskoch, für morgen früh einen Teil der Kartoffeln zu schälen und Teig für den Backfisch vorzubereiten. Die Küche seines Stands auf der Schueberfouer hatte eine Fläche von drei, höchstens vier Quadratmetern, und er war froh, sich die meisten Zutaten kochfertig anliefern lassen zu können. Dann ging Kieffer wieder auf den Parkplatz, zu seinem Lieferwagen. Er setzte sich hinein und kramte im Handschuhfach nach einem Album der B52s, das sich irgendwo zwischen Quittungsblöcken und zerknüllten Strafzetteln versteckte. Als er die Kassette gefunden hatte, steckte er sie ein und fuhr los.
    Kieffers Restaurant befand sich in Clausen, einem der Luxemburger Unterstadtviertel. Im Westen und Süden umgeben vom Bockfelsen lag die ville basse im Alzette-Tal, weit unter der etwa fünfzig Meter darüber thronenden Oberstadt. Auf der Nordostseite Clausens erhob sich das Plateau de Kirchberg, auf das Kieffer nun zusteuerte. Sein Lokal lag direkt am Hang, und so musste man mit dem Auto zunächst im Schritttempo die schmale Rue Jules Wilhelm hinauffahren, bis zu einem mittelalterlichen Torbogen, der vor einer Haarnadelkurve die alte Stadtgrenze markierte. Dahinter schlängelte sich eine Milliounewee genannte Serpentine den Hang empor. Oberhalb der Straße konnte Kieffer bereits die Hochhäuser auf dem Plateau sehen. Jedes Jahr wurden es mehr, und eines Tages würde der Kirchberg vollständig von ihnen bedeckt sein. In seiner Jugend waren dort oben noch große Wiesen gewesen, außerdem Kühe. Dann kamen die Bagger. Zuerst hatte sich die Europäische Union auf dem Berg angesiedelt. In den Neunzigern hatte dann die Finanzbranche Luxemburg für sich entdeckt, Äcker und Wiesen hatten Glasbunker um Glasbunker Platz gemacht. Inzwischen stellten Investmentbanker und Steuerberater auf dem Kirchberg die Mehrheit und hatten die Beamten der EU zahlenmäßig abgehängt, von den Kühen ganz zu schweigen.
    Der Milliounewee endete unterhalb der Luxemburger Philharmonie. Von dort steuerte Kieffer seinen Peugeot auf die Avenue John F. Kennedy. Am Ende der breiten Straße
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