Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzte Beichte

Letzte Beichte

Titel: Letzte Beichte
Autoren: Helen FitzGerald
Vom Netzwerk:
ich sagen muss. Mir fällt ein, was Chas mir immer wieder gesagt hat: dass ich nicht sorgfältig genug hinsehe, dass nicht alles so ist, wie es scheint.
    »Deine Mutti ist hier. Sie hat Kartoffelbrei und Hamburger mit Ketchup gemacht.«
    »Was?« fragt Jeremy.
    »Dein bestes Mädchen. Sie ist hier. Sie ist den ganzen Weg gekommen, um dich zu holen, und sie wartet in den Clyde View Apartments auf dich, oben an der Clyde Street, Nummer 12.«
    »Hamburger?« fragt er.
    »Würstchen meine ich, Würstchen.«
    »Sie ist hier? Wirklich?«
    »Ja«, sage ich. »Und sie hat dein Alibi bestätigt. Deswegen bist du frei.«
    »Das hat sie getan? Obwohl …«
    »Obwohl es eine Lüge war. Geh zu ihr, Jeremy. Sie wartet auf dich.«
    Er lockert seinen Griff, und ich fühle, wie Chas’ Blut auf michherabtropft. Und ich weine, weil mein Leben auf diesem Dachboden dahinrinnt und ich nichts dagegen tun kann.
    Er lockert seinen Griff und richtet seinen Blick in eine unbekannte Ferne. Und er steht auf wie ein Außerirdischer, der in sein Raumschiff zurückbeordert wurde, und geht langsam davon: raus aus der Pfütze, durch die Luke, die Treppe hinab, hinaus.
    » KRANKENWAGEN ! KRANKENWAGEN ! MRS . Mc TAY ! WÄHLEN SIE 999!« schreie ich.
    Ich springe auf die Füße und gehe zu Chas. Er sollte bei seiner Vernissage sein, und stattdessen klammere ich mich an ihn und rufe um Hilfe. Er rührt sich nicht. Keine Bewegung. Ich löse die Fesseln an seinen Beinen und schlage ihm sanft ins Gesicht, aber er reagiert nicht. Ich ziehe an dem Draht, aber der lässt sich kein Stück weit bewegen. Ich ziehe mein T-Shirt aus, ich presse es gegen seinen fingerlosen, fleischroten Handstumpf und sehe zu, wie sich der Dachboden mit dickem, heißem Blut füllt. Ich stampfe mit dem Fuß auf und schreie.
    Ich schaffe es nicht, seinen Knebel zu lösen, ihm die Augenbinde abzunehmen oder auch nur festzustellen, ob er am Leben ist. Ich weiß, was ich zu tun habe: fest gegen den Stumpf zu drücken, aus dem das Blut sprudelt.
    Es ist, als ob Stunden vergangen wären, bis Mrs. McTay endlich ihren Kopf durch die Luke steckt. »Wählen Sie 999, schnell! Und holen Sie Eis!« schreie ich.
    Sie fragt nicht nach dem Grund, sie kennt ihn: Als sie beim Hinausgehen ihren Kopf senkt, ist sie mit fünf losen Fingern konfrontiert. Sie schreit. Sie unterdrückt den Impuls, sich zu übergeben, verschwindet und kommt kurze Zeit später mit einem Beutel, einer Packung tiefgekühlter Erbsen und einer tiefgekühlten Lammhaxe zurück.
    »Wickeln Sie sie ein!« sage ich, während ich Chas’ Handstumpf halte, aus dem das Blut durch meine Finger schießt. Und sie tut, was ich sage, und tütet die Finger zusammen mit den Erbsen und der Lammhaxe ein, und wir halten die Stücke von Chas und stehen betend auf dem dunklen Dachboden, bis die Sirene ertönt.

[Menü]
60
    Jeremy sitzt in den Clyde View Apartments am Esstisch. Anne sitzt ihm gegenüber. Er schaut auf seinen Kartoffelbrei mit Würstchen und Ketchup und bekommt keinen Bissen herunter.
    »Iss was«, sagt seine Mutti. Sie ist zum ersten Mal seit Jahren nüchtern.
    Aber Jeremy bekommt keinen Bissen herunter. Er hat zu lange warten müssen, und er ist sich nicht sicher, ob er jetzt mit dem Warten einfach so aufhören kann. Also nimmt er stattdessen einen Schluck Wein. Seiner Mutti scheint es nichts auszumachen, auf ihn zu warten, und schließlich ist er soweit. Er isst schnell.
    »Heute wäre Bellas Geburtstag«, sagt Anne. Sie schaut Jeremy in die Augen, als ihm klar wird, was sie gesagt hat. Sie hält seine Hände fester umfasst, damit er aufhört, dagegen anzukämpfen. Sie will ihm helfen. Er hat es sowieso schon in sich, und er fühlt sich ganz schlimm und ganz schwach.
    Sie hatte ihn nicht ihm Gefängnis lassen können. Sie hatte es gewusst, seit er sie angerufen und ihr von dieser Sozialarbeiterin erzählt hatte. »Sie ist das beste Mädchen, und ich weiß, was zu tun ist. Selbst von hier drinnen kann ich die Sache in Ordnung bringen.« Sie wusste, dass er in seinem Innern viel zu zerstört war, um etwas anderes als zerstören zu können. Wusste, dass die Schnittwunden auf seiner Stirn und die blauen Flecken am Hals genau wie jene aussahen, die er sich im Ferienlager zugefügt hatte, als er nach Hause wollte und seinen Kopf wieder und wieder gegen die Felsen am Strand geschlagen hatte (und er hatte es geschafft; sie hatte ihn zu sich nehmen müssen). Wusste, dass es Bridget genauso wie seinem armen Hund Bobby ergangen war, mit dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher