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Letzte Ausfahrt Ostfriesland

Letzte Ausfahrt Ostfriesland

Titel: Letzte Ausfahrt Ostfriesland
Autoren: Theodor J. Reisdorf
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auch versuchen.«
    Ich rückte meinen Stuhl näher zu ihr, spielte den verliebten Bock, obwohl mir zum Kotzen übel war.
    »Wo ist sie?«, fragte ich.
    »Sie ist weg. Vielleicht nach Amsterdam, Athen oder Istanbul«, hauchte sie mir zu.
    Erst jetzt sah ich, dass sich ein Mann für uns zu interessieren begann. Er schielte zu uns herüber, als suche er einen Platz.
    Auch mein Engel hatte die Szene beobachtet, erhob sich und küsste mich.
    Ich sah dem Mädchen nach, das mich verließ, mir vorher noch über das Haar strich, als verließe sie einen Geliebten.
    Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt.
    Wie viele Tage war ich nun schon unterwegs? Was musste ich in der kurzen Zeit alles verkraften?
    Das hübsche Mädchen kam zurück. Es trug eine kleine Geldtasche in der Hand. Ich gab ihm zwei Hundert-Euro-Scheine.
    »Reicht das?«, fragte ich.
    Sie verbeugte sich, und ich starrte auf ihre Brüste, die wie ein Glockengeläut herabhingen, und langte nach dem Zettel, den sie mir zuschob. Ungelesen ließ ich ihn unbemerkt in meine Handfläche gleiten.
    Ich verließ das Lokal und betrat die Straße des frühmorgendlichen Berlins. Als ich über den leeren Kurfürstendamm meinem Hotel entgegenschritt, hatte ich das Gefühl, verfolgt zu werden. Kein Wunder, denn ich musste mich zusammenreißen, um nicht einfach vor Erschöpfung umzufallen.
    Ich nahm ein Taxi.
    »Hotel Michels«, sagte ich heiser vor Angst, denn ich bemerkte in der Tat Männer, die sich berieten, als sei ich ihnen entwischt.
     
    Ich war erschöpft, als ich das Taxi verließ. Dem Fahrer überließ ich das Wechselgeld. Er nickte mir freudig zu. Mir war alles egal geworden. Was ich benötigte, waren ein paar Stunden Schlaf. Meine Beine waren schwer wie Blei.
    Mit leeren Augen erkannte ich Frau Michels’ fettes Gesicht, das sie mir hinter dem Fensterchen ihres Büros entgegenhielt. Sie schien mich neugierig zu mustern.
    Wortlos schlich ich vorbei, fand mein Zimmer, verschloss die Tür, zog den Zettel meines barbusigen Engels hervor und las:
    Fedor Mai, Benthausstraße 11a.
    Mehrmals wiederholte ich Namen und Adresse, zerriss den Zettel, steckte die Schnipsel in die Tasche meiner Lederjacke und warf mich auf das Bett, ohne das Licht gelöscht zu haben.
    Wilde Träume überfielen mich, quälten mich, ohne meinen Schlaf zu unterbrechen.
    Mein Direktor trieb mich mit einem Schwert durch die Klassenräume der Schule in die Arme des Oberschulrats, der mit Handschellen auf mich wartete.
    Dann war es Anke, meine verstorbene Frau, die auf einem Felsvorsprung saß, meine Beine umklammerte, während ich heulend auf dem Steinboden lag und meine Tochter an meinen Händen über einer abgrundtiefen Schlucht baumelte, in der uns ein Feuer mit hochschlagenden Flammen die Hitze entgegenspie.
    Als ich endlich erwachte, die Träume zu vergessen begann, freute ich mich über die Sonnenstrahlen, die in mein Zimmer fielen. Ich trat ans Fenster, blickte auf die Baumkronen, sah für Sekunden dem Autoverkehr zu und beobachtete die Menschen, die sommerlich gekleidet über den gegenüberliegenden Bürgersteig spazierten, als trieben sie keine Verpflichtungen an.
    Ich verließ das Fenster, studierte kurz das Hotelzimmer, erfreute mich an einem Druck des Picasso-Gemäldes Mädchen mit Taube, das die Situation der Stadt symbolisierte und mich schlagartig mit den Gründen meiner Anwesenheit konfrontierte. Ich stellte mich an das Waschbecken, stierte in den Spiegel und glaubte einen Fremden zu sehen, dem graue Bartstoppeln und Sorgenfalten einen tiefen Ernst in das Gesicht geschrieben hatten. Doch als ich den Blick meiner Augen suchte, stieg in mir eine Kraft auf, die als Wärme durch meinen Körper fuhr.
    »Inga, ich finde dich! Was du auch tust, getan hast und tun wirst, ich bleibe dein Vater! Ich werde dich finden!«, sprach ich zu mir selbst und wunderte mich über die tiefe Entschlossenheit, die von mir Besitz ergriff.
    Ich rasierte mich, hielt meinen Kopf unter den kalten Wasserstrahl, tauchte meine Arme in das gefüllte Becken und weckte meine Geister.
    Im Frühstücksraum waren die meisten Tische bereits abgeräumt. In einer Ecke war für mich gedeckt. Eine ältere Frau fragte mich: »Tee oder Kaffee?«
    Ich entschied mich für Kaffee, denn ich ahnte, dass sie hier in Berlin vom Tee nicht viel verstanden.
    Während mir die Brötchen schmeckten, die ich mit reichlich Butter und Marmelade aus Minidöschen versehen hatte, studierte ich das Berliner Telefonbuch.
    Den Namen Mai gab es mehrmals,
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