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Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End

Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End

Titel: Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End
Autoren: Michael Bengel
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von 1817 bis 1821, und Chatham liegt nur ein paar Hundert Meter weiter an derselben High Street, am selben Medway sowieso. »Wenn heute einer sagen könnte, wo Rochester endet und Chatham beginnt«, hat Dickens selbst gesagt, »dann kann der mehr als ich.« Heute sind die beiden als »City of Rochester-upon-Medway« ohnehin eine Stadt. Und dennoch ist die Unterscheidung so spitzfindig wie sinnvoll. Denn Chatham ist in vielem die Ergänzung und das Gegenbild zum schönen Rochester.
    Die eine ist die Dickens-Stadt im Sonntagsstaat, frisch lackiert, mit Blumenkörben an den Häusern; die andere trägt alle Tage ihre Arbeitskluft und zeigt auch sonntags ihre Schwielen an den Händen. Von 1547 bis 1984, seit den Stuarts bis weit in das Atomzeitalter, lag hier im weichen Schlick der wechselnden Gezeiten der Royal Dockyard, die Werft für Englands Seestreitkräfte. Vierhundert Kriegsschiffe wurden hier auf Kiel gelegt; das erste, 1586, war die »Sunne«, das letzte wurde 1966 die »Okanagan«, ein U-Boot der Royal Canadian Navy.
    Hier hat John Dickens, der Vater des Erzählers, als Zahlmeister sein Glück versucht, bis er 1822 aufgab und zurück nach London ging. Der Niedergang der Werft kam mit den großen Schiffen und der stärkeren Verlandung in der Medway-Mündung; als die Admiralität die Dockyards 1984 aufgab, verlor die Stadt mit einem Schlag achttausend Arbeitsplätze.
    Doch wo andernorts vielleicht saniert, geplündert, abgewickelt worden wäre, hat man sich hier der eigenen Geschichte angenommen und präsentiert die Werftanlage als Historic Dockyard, als Museum. In Zahlen zumindest ist es die größte Sehenswürdigkeit im englischen Südosten, auch wenn die Attraktion der spröden Stätte niemals an die Popularität von Canterburys Kathedrale heranreichen wird. Auf zweiunddreißig Hektar stehen siebenundvierzig historische Bauten beisammen, die meisten aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert, Schwimmdocks, Trockendocks und Schiffsbauhallen, alles im Originalzustand, die Werkstätten der Handwerker, die Amtsstuben der Zahlmeister, die Messe und sogar die Dockyard Church, die eigene Kirche.
    Im Backstein des Portals prangt nach wie vor das Wappen Georges III. von 1811, doch den Besuchern bietet sich ein Überblick, der weiter reicht als bloß bis 1811 und die gesamte Zeit der Segel- wie der Dampfschifffahrt umfasst, die ganze Zeit von Englands Größe. Da liegen Kanonen aus den Zeiten der Armada neben solchen aus dem Zweiten Weltkrieg, das U-Boot »XE8« von 1944 neben dem viktorianischen Dreimastdampfboot »Gannet« von 1876 in eiserner Rüstung, und wiederum daneben, in der gleichen schlanken Körperform der Schiffe, das Trockendock 2, die Wiege des berühmtesten von allen Schiffen Chathams und der Royal Navy, der »Victory«, auf Kiel gelegt im Siebenjährigen Krieg, 1759, doch nach dem Krieg erst, 1765, vom Stapel gelaufen, ruhmreich schließlich erst als Veteran, als Nelsons Flaggschiff vor Trafalgar, 1805.
    Vieles ist verrottet, mürbe oder blind geworden. Die großen Hallen, die den Medway säumen, stammen schließlich aus den Jahren 1836 bis 1855, frühes Zeugnis einer neuen Rippenkonstruktion, und wenn man sie auch heutzutage gerne zu »Industrial Cathedrals« stilisiert, dulden sie doch keinen Zweifel, dass man sie zu nichts als harter Arbeit hier errichtet hat. Ebenfalls ein bloßer Arbeitsplatz und doch ein eleganter Prachtbau ist die Backsteinhalle für die Segel und die Flaggen von 1734. Wo schon die »Victory« gerüstet wurde, sind immer noch die Segelmacher bei der Arbeit, Wimpel, Souvernirs, robuste Einkaufstaschen sind ihr täglich Brot, aber dann und wann kommt ihnen auch ein Segel in die Nähmaschine. Die Seilerei am Fluss ist gleichfalls in Betrieb, die älteste in England, die noch funktioniert, und obendrein der längste Bau in Chatham: eine knappe Viertelmeile unter einem Dach.
    Die größte Sehenswürdigkeit indes ist erst 1990 im alten weißen Mast House eingerichtet worden: die Wooden Walls Gallery, das ebenso patriotische wie lehrreiche Herzstück der Werft. Wooden Walls, so nannte England stolz im 18. Jahrhundert seine Flotte, der schwimmende, bewehrte Schutzwall des Imperiums. Der Bau der »Valiant«, eines vierundsiebzigfach bestückten ship of the line in den Krisenjahren 1758/59 wird hier als lebensechtes Modell mit großem Aufwand simuliert. In England liebt man solche liebevoll gestalteten Lokaltermine der Geschichte, bis ins Letzte ausgetüftelte Spektakel, die dem eigenen
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