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Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End

Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End

Titel: Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End
Autoren: Michael Bengel
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wird völlig phantastisch und sehr einfach geschrieben sein …«
    Fantastisch ist der Wandel des Geschlechts, der freilich Vitas Neigungen entspricht: Sie liebte Frauen und liierte sich mit Männern. Fantastisch ist die Dauerhaftigkeit im Wandel, doch eben hierin liegt die Wahrheit der Erzählung eigentlich begründet, denn eine Reise durch die Zeit ist jede Fahrt durch Englands heckenübersäte countryside mit ihren alten Dörfern, Herbergen und Kirchen, jeder Schlossbesuch zumal – und ganz besonders der Besuch in Knole, das auch im Augenblick der Gegenwart wie in Tudorzeiten vor uns steht.
    »Heart of Kent«: So heißt der beste Schauplatz einer solchen Zeitreise. Und Schlösser und Kastelle bilden hier wie vor Jahrhunderten die Pfosten, zwischen denen dieses Herzstück Englands abgesteckt ist: Leeds Castle im Osten, Sissinghurst und Scotney Castle, die beiden Ruinen mit herrlichen Gärten, und das märchenhaft-wehrhafte Bodiam Castle gleich jenseits der Grenze von Sussex im Süden, Penshurst Place und Hever Castle im Westen, dazwischen, als Filetstück: Knole.
    »Das große Haus zu Sevenoaks«, wie es bereits im 15. Jahrhundert hieß, ist mit dem Gang der Zeiten nicht nur im Roman, sondern auch in der Wirklichkeit verbunden: Es ist – »as time goes by« – um sieben Innenhöfe rings gebaut, hat zweiundfünfzig Treppen und soll so viele Räume haben wie Tage im Jahr: dreihundertfünfundsechzig. Niemand weiß, ob das bloß Zufall ist oder Zahlenmagie der Erbauer; selbst Vita Sackville-West, die auf Knole herangewachsen ist und die dem Haus ihrer Geburt ein Buch gewidmet hat (»Knole and the Sackvilles«, 1922), gesteht, die Zahlen nie geprüft zu haben: Am liebsten, schreibt sie, sei ihr die Idee, der letzte Architekt sei unverhofft darauf gestoßen, dass er mit wenig Aufwand und ein wenig Zahlenakrobatik, mit Vorzimmern und List und Lobbys, bedeutungsschwere Wirkung schaffen könne. Wie auch immer: Heute sind die Zahlen in der Welt und heischen Unterwerfung.
    Was die Autorin in der Dichtung an das Leben und Erleben einer einzigen Figur gebunden hat, das verbindet sich historisch mit dem Namen einer einzigen Familie: Ein Lord of Sauqueville, ein Ritter aus der Normandie, vier Jahre schon nach der Eroberung des Jahres 1066 urkundlich bezeugt, soll der Ahnherr aller Sackvilles sein. Wie diese hat Orlando neben englischem auch normannisches Blut in den Adern.
    Als festes Haus ist Knole seit 1281 belegt. 1456 kaufte es der Erzbischof von Canterbury, Thomas Bourchier, für zweihundertsechsundsechzig Pfund, dreizehn Shilling und vier Pence und verwandelte die Festung in eine Wohnstatt. Drei weitere Erzbischöfe folgten, dem vierten, Thomas Cranmer, forderte Heinrich VIII. es ab. So fiel es an die Krone. Zum ersten Mal in der Geschichte hatte England eine mächtige Zentralgewalt, niemand musste sich fortan um seine eigene Verteidigung bemühen, die Zeit der castles , der Burgen, war vorüber: Knole wurde eines der ersten großen country houses Englands.
    Zu Heinrichs Zeit gelangte ein Richard de Sackville zu Reichtum und zu rüdem Ruf, der durch das Wortspiel »sackfill« oder »fillsack« überliefert wurde. Seine Mutter war eine Tante der Königin Anne Boleyn, Heinrich Blaubarts zweiter Frau, und deren Tochter, Elisabeth I., gab Knole an ihren Cousin Thomas Sackville, als sie auf dem Thron saß, 1566 noch auf Zeit, 1603 für immer.
    Sackville war ein Günstling seiner Königin, kein Zweifel, Politiker, Botschafter in Frankreich und den Niederlanden, Schatzmeister zuletzt – und Künstler obendrein, der Dichter der ersten englischen Tragödie im Blankvers. Er war – mit einem Wort –, wie Vita Sackville-West, Orlando. Und so wie Orlando ließ auch Thomas, unter James I. 1604 zum Earl of Dorset erhoben, das Haus aufs Prächtigste verwandeln.
    Seit jener Zeit hat Knole sich kaum verändert. Da ist die große, aber unscheinbare Westfassade, die noch der König hatte bauen lassen, das Erste, was der heutige Besucher sieht, ein graues Bild von Ebenmaß und Abgeschlossenheit. Man muss aus einem hohen Fenster blicken können, um Knole in jener Vielfalt zu entdecken, die Orlando immer wieder fasziniert: »Sein Haus. Dort lag es im frühen Sonnenschein des Frühlings. Es sah eher wie eine Stadt aus denn wie ein Haus, aber eine Stadt, die nicht kreuz und quer erbaut war, wie dieser Mann es wünschte oder jener, sondern von einem einzigen Baumeister mit einer einzigen Vorstellung im Kopf.« – Es war der Kopf
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