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Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End

Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End

Titel: Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End
Autoren: Michael Bengel
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historischen Bewusstsein zwanglos auf die Sprünge helfen sollen und die Pilgerfahrt der »Canterbury Tales«, den eleganten Zeitvertreib im Kurort Tunbridge Wells (»A Day at the Wells«) oder die vom Krieg gezeichnete Geschichte Dovers (»White Cliffs Experience«) multimedial vor Augen führen. Ihnen allen aber hat die Wooden Walls Gallery unstrittig voraus, dass ihre Reanimation am rechten Ort vonstattengeht: Die weißen Fachwerkbauten stammen aus den Jahren 1753–1758, und vor den Toren fließt derselbe Medway. So begleitet man den Zimmermannseleven William Crockwell durch die Werkstatt und die Zeit und lernt weit mehr, als bloßer Unterricht in dieser Zeit vermag: Dass für jedes Schiff ein Eichenwald so groß wie die gesamten Dockyards gebraucht wurde, zweihunderttausend Eichen insgesamt in der Geschichte Chathams; dass Handwerker aus zwanzig verschiedenen Berufen Hand in Hand beim Schiffsbau tätig waren – und jeder erst nach sieben Jahren Lehre; dass schon damals mehr als tausendsiebenhundert Mann hier Arbeit hatten, vom Oberschiffsbauer bis hin zum Rattenfänger, dessen Schaffen Jahr für Jahr mit vier Pfund in die Bücher kam. Man sieht die Männer beim Kalfatern, die Schmiede mit dem Anker und die Sägeburschen, die in Handarbeit aus ganzen Eichen Bohlen machen im Akkord.
    Schon nach vierzig Jahren war die große Zeit der »Valiant« vorüber, nach 1799 tat sie nur noch Dienst als Quarantäneschiff im Medway; Dickens mag sie also noch gesehen haben. 1826 unternahm sie ihre letzte Fahrt die Themsemündung abwärts bis Sheerness und wurde ausgeschlachtet. Ihre Eichenspanten zieren sicher heute noch so manche malerische Fachwerkwand in England.
    Es ist ein Abstecher für einen halben Tag, der Weg von Rochester nach Chatham. Vom Medway geht der Blick zurück auf Gundolfs alte Kathedrale; dort oben wünschte sich Dickens seine letzte Ruhestatt. Doch sein Grab liegt in Westminster Abbey, für die Kreisstadt war er zu berühmt. Dafür ist er hier immer noch lebendig, und nimmt man Chatham noch zu Rochester hinzu, dann ist das Inventar der beiden Zwillingsstädte, wie Mister Pickwick es einst beschrieb, heute noch zu schmecken, zu fühlen und zu riechen: »Soldaten, Seeleute, Juden, Kreide, Garnelen, Polizisten und Dockarbeiter«, und in den Läden »Schiffsbedarf, Zwieback, Äpfel, Plattfische und Austern«.

Der Held als Frau
    Knole und andere Schlösser in Kent
    Orlandos Lieblingsplatz liegt hoch bei einer Eiche, auf dem Rücken einer Höhe – »so hoch in der Tat, dass man unten neunzehn englische Grafschaften sehen konnte; und an klaren Tagen dreißig oder vielleicht vierzig, wenn das Wetter sehr schön war«. – Man sieht zuweilen den Kanal, im Osten Londons, eingehüllt in Rauch, und in der Ferne obendrein den Snowdon.
    Nichts von alledem ist wahr: Der Snowdon liegt in Wales, der Ärmelkanal fern auf der anderen Seite, und auch Orlando ist erfunden, oder doch zur Hälfte, Titelheld und -heldin eines biografischen Romans von Virginia Woolf. Die zweite Hälfte freilich hat gelebt, Victoria (»Vita«) Sackville-West, Vertraute wie Geliebte der Autorin. Sie war das kaum verhüllte Vorbild für Orlando. Ihr hat Virginia Woolf ihre Arbeit gewidmet, und am Ende mochte sie die Freundin fragen: »Habe ich dich erfunden?«
    Vorgefunden hat sie immerhin den Schauplatz, hoch auf dem Rücken des Sevenoaks Ridge. Hier, wo der Sandstein sich zu grünen Buckeln wölbt, inmitten alter Bäume, verborgen hinter Eichen, Buchen, Ahorn und Kastanien, liegt auf einem dieser Hügel oder knolls , nach einem alten Wort, Vitas Vaterhaus und heißt nach seiner Lage: Knole – nicht das schönste, nicht das meistbesuchte, aber doch das typischste, charaktervollste und vor allem »englischste« von allen Herrenhäusern Kents. Und das will einiges bedeuten: Einzig noch Northumberland verzeichnet mehr an Schlössern und Kastellen als die alte Grafschaft Kent, die Wiege und der Garten Englands.
    Wie der Roman im spielerischen Umgang mit der Erzählform der Biografie das Leben Vita-Orlandos erzählt, so erzählt er auch das Leben dieses Hauses seit der Frühzeit bis zum »Augenblick der Gegenwart«, dem 11. Oktober 1928, dem Erscheinungstag des Buches. Auch Orlando lebt die ganze Zeit und altert über vier Jahrhunderte eben mal um zwanzig Jahre: »Orlando, der Held, wird von den Tagen Elisabeths bis zur Gegenwart leben und auf halbem Wege eine Frau werden«, schrieb VW (Virginia Woolf) vor der Veröffentlichung an ihren Verleger, »es
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