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Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End

Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End

Titel: Lesereise Südengland - Tea Time vor Land’s End
Autoren: Michael Bengel
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leidlich durch die wechselnden Jahrhunderte gemogelt. Wohl wahr, sie hat dabei auch Federn lassen müssen: Der Kreisverkehr am Fuß des Common, des alten öffentlichen Grüns der Stadt mit Bäumen, Ginster, Farn und Gras, verwickelt drei belebte Straßen zu einem dauernden Gewirr, das jeglichem Verkehr die Lebensluft gleich mehrmals täglich nimmt. Doch ein paar Schritte weiter abseits ist der Lärm der Straße schon verschwunden: Der Durchlass im Gemäuer weitet sich zur stimmungsvollen Promenade mit hübschen, weiß lackierten Häuserfronten links und rechts, mit einem Säulengang vor einer Reihe von Geschäften und Linden, die den Weg beschirmen. Das sind die Pantiles, das Herzstück und die Wiege von Royal Tunbridge Wells, die älteste Fußgängerzone der Welt und noch immer eine der harmonischsten.
    Nur ein paar kleinere Reklametafeln in den Kolonnaden sperren sich dagegen, dass die schöne Illusion zur plumpen Täuschung wird. Ansonsten aber dominiert das Bild der alten Welt mit ihrem Ebenmaß der Fenster und Fassaden: »Those were the days my friend!« Die gute alte Zeit! Und wer erscheint da wie bestellt, mit Dreispitz und Perücke, Ärmelkrause, Strumpf, Culotte und Schnallenschuh? Ein Abgesandter jener Zeit, der in der heutigen dezent Reklame machen soll für »A Day at the Wells«, das Multimedia-Porträt der städtischen Vergangenheit. Das aber tut er immerhin mit Geistesgegenwart: »You come from Germany? Be welcome! Our King is German, you remember? George II.«
    Ein König? Und ein Deutscher? Natürlich, Georg August, Kurfürst von Hannover, wie sein Vater König über Großbritannien, doch kaum ein halber Engländer, wenngleich er, anders als noch George I., immerhin des Englischen schon mächtig war, Regierungszeit von 1727 bis 1760, die schönste Blütezeit von Tunbridge Wells, das damals schon seit hundert Jahren der liebste Badeplatz und Spielplatz für die feine englische Gesellschaft war: »Die Königin ist mit ihren Hofdamen in Tunbridge Wells«, das wird im Tagebuch des Samuel Pepys, der zur Zeit Charles II. lebte, zur häufig wiederholten Formel. Mochte London brennen oder gar die Pest das Land verheeren: Weit genug entfernt vom Hof und seiner Etikette lebte man in Tunbridge Wells wie an einem ewigen Sonntag. Kein Wunder also, dass der Modetreff im Wald bald einen zweiten Namen hatte: Eaux de Scandale.
    Freilich, glaubt man der Legende, dann ist der ganze Flecken sowieso ein Teufelswerk: In Mayfield, sieben Meilen – »as the crow flies« – weit entfernt im Süden, lebte im 10. Jahrhundert der Heilige Dunstan, Erzbischof von Canterbury und nebenher ein guter Schmied. Den traf der Teufel an der Esse, als er sich sein Pferd beschlagen wollte. Kaum hatte er den Teufel im Visier, zwackte er ihn mit der glühend heißen Feuerzange in die Nase, dass der Böse einen Schrei und einen Satz tat – geradewegs von hier bis Tunbridge Wells, um sich dort in einer Quelle abzukühlen. Seither, heißt es, hat das Wasser jenen Stich von Schwefel und Eisen, der den Kurbetrieb beflügelt.
    Soviel zur Legende, der Rest ist bloß Geschichte: Auf einem Ritt zurück nach London entdeckte 1606 ein junger Edelmann, Dudley, der dritte Lord North, eine eisenhaltige Quelle (»Chalybeate Spring«) im Wald von Waterdown, vier Meilen weit entfernt von Tunbridge, dem heutigen Nachbarort Tonbridge. Der Höfling hatte sich im nahen Eridge Castle von den Ermattungen der Ausschweifung erholen wollen, da kam ihm dieses Wasser gerade recht. Da es scheußlich schmeckte, musste es wohl nützlich sein. Er ließ es prüfen, hörte nur das Beste und genoss es auch selbst zum Beweis. Fortan war die Quelle angezeigt »in cold chronical distempers, weak nerves and bad digestion«, kurz, bei allen widrigen Begleitumständen des höfischen Wohllebens, Verstimmung, Nervenschwäche und schlechter Verdauung. Bei solch willkommener Indikation musste aus dem Wasserloch im Grünen bald eine Goldgrube werden. Die Quelle wurde eingefriedet und bekannt gemacht, den Rest tat die Distanz zur Hauptstadt: nach London war es gerade mal so weit wie von Paris nach Fontainebleau.
    Der Ruhm wuchs schneller, als man Häuser bauen konnte. Selbst die Nobelsten der Gäste mussten anfangs noch in Zelten auf dem Hügelkamm kampieren. 1629 bereitete sich Königin Henrietta-Maria hier auf die Entbindung vor, und nach der Geburt ihres Sohnes, des späteren Königs Charles II., kehrte sie im Jahr darauf zurück: Tunbridge Wells, die Quellen von Tunbridge, waren in
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