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Lesereise Schottland

Lesereise Schottland

Titel: Lesereise Schottland
Autoren: Ralf Sotscheck
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überstand es die Angriffe unversehrt.
    1580 wurde ein einstöckiges Gebäude, der Auktionsraum, über dem Gewölbe errichtet und in den folgenden Jahrzehnten immer wieder umgebaut und erweitert. Das Gebäude in seiner heutigen Form stammt aus dem Jahr 1785. Es gehörte damals der Thomson-Familie, die noch immer in Edinburgh mit Wein handelt. Der frühere Auktionsraum beherbergt heute ein exklusives Restaurant, The Vintner’s Room.
    Richard Mohan hat inzwischen zwei Whisky Nummer 36.13 bestellt, also aus dem dreizehnten Fass der sechsunddreißigsten Brennerei, die »im höchsten Ort der Highlands liegt und nach ihm benannt ist«. Tomintoul? Wenn man jetzt die schottische Geografie beherrschte! Jedenfalls soll er nach »künstlichen Himbeeren, dann nach Marshmallows und poliertem Holz« schmecken. Gibt man Wasser hinzu, entfalte sich »Bubblegum mit einer leicht wachsigen Note«. Siebzehn Jahre ist der Whisky alt, das Fass hat zweihundertsechzehn Flaschen ergeben, jede kostet umgerechnet siebzig Euro. Das ist der Whisky wert, meint Richard und fragt: »Verstehst du nun, warum auf manchen Inseln noch heute Neugeborene mit Whisky getauft werden?«

Camraisten gegen Hühnerpisse
    Wir standen an der Theke der Scotia Bar, Glasgows ältester Kneipe aus dem Jahr 1792, und Rodney fragte: »Was willst du trinken?« Ich machte den ersten Fehler: »Ich nehme das Gleiche wie du.« Rodney bestellte zwei Theakstons Best Bitter, die in Sekundenschnelle serviert wurden. Das machte mich misstrauisch. Zu Recht. Ich probierte vorsichtig von der schaumkronenlosen Brühe und flüsterte Rodney zu: »Das Bier ist schal.«
    Das war der zweite Fehler. Rodney drehte sich um und rief lauthals durch die Kneipe: »Hört mal, der Typ behauptet, das Theakstons wäre schal!« Und dann zu mir gewandt: »Das liegt daran, dass du nur Hühnerpisse gewöhnt bist. Das hier ist ein richtiges Bier.«
    Ich hätte es ahnen müssen: Hinter Rodneys freundlichem Äußeren verbarg sich ein knallharter Camraist. Camra ist die »Campaign for Real Ale«, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Leute wie mich zu konvertieren. Real-Ale-Trinker sind wie Missionare, und eine Beleidigung ihres obergärigen Getränks ist Blasphemie. Camra wurde 1971 gegründet und hat heute dreiunddreißigtausend Mitglieder in Großbritannien.
    Ein Großteil davon befand sich offenbar ausgerechnet in der Scotia Bar. Eine wunderbare Kneipe übrigens: Sie ist Hauptquartier der linken Schriftsteller, und als Glasgow 1990 Kulturhauptstadt war, wurde das offizielle Brimborium in der Scotia Bar täglich durch den Kakao gezogen.
    Doch jetzt kamen sie aus dem Nebeldunst, der unter der extrem niedrigen Decke hing, auf mich zu. »Du hast ja keine Ahnung von Bier«, behauptete ein Weißhaariger. »Das ist die traditionelle britische Brauart. Das Bier wird nicht pasteurisiert oder gefiltert, sondern gärt im Fass weiter. Das braucht keine zusätzliche Kohlensäure.« Das sah ich anders, behielt meine Meinung angesichts der Camra-Übermacht jedoch für mich.
    In den fünfziger und sechziger Jahren gaben die meisten Brauereien die traditionelle Brauart auf und produzierten stattdessen ein dünnes und geschmacksneutrales helles Bier, das sogenannte Lager. Camra hat jedoch dafür gesorgt, dass der Marktanteil von Real Ale heute wieder bei fünfzehn Prozent liegt. Rodney hatte es sich in den Kopf gesetzt, diesen Prozentsatz umgehend zu erhöhen. »Versuch doch mal ein anderes Bier, zum Beispiel Greenmantle Ale.«
    Ich machte den dritten Fehler und nickte schwach. Im Handumdrehen stand die trübe Suppe vor mir, die so schmeckte, als ob sie drei Tage offen im Kühlschrank gestanden hätte. Dazu reichte mir der Wirt eine kleine Broschüre: »The Dear Green Pint«, einen Real-Ale-Führer für Glasgow, durch den sich wie ein roter Faden Gemeinheiten gegen Leute zogen, die noch nicht erleuchtet waren. Im Anhang befand sich ein Camra-Beitrittsformular. Mit der Unterschrift wurde man nicht nur vierzehn Pfund los, sondern unterwarf sich auch den Gesetzen der Kampagne. Was hieß das? »Jeden Tag ein Real-Ale-Vollrausch für die gute Sache«, erklärte Rodney.
    Inzwischen hatte ich auch das Greenmantle Ale mit Hilfe eines schottischen Whiskys heruntergespült, was mir ungeahnten Mut verlieh. Ich bestellte laut und deutlich ein Glas Hühnerpisse und erhielt anstandslos ein Lager. Die Bier-Aktivisten straften mich mit verachtenden Blicken. Rodney, der offenbar befürchtete,
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