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Léonide (German Edition)

Léonide (German Edition)

Titel: Léonide (German Edition)
Autoren: Charlotte Schaefer
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    Schwefelgelbe Sterne
     
     
    Ich sah in diesem Schnitter eine vage Figur, wie ein Teufel, der in der Gluthitze kämpft, um mit seiner Arbeit zu Ende zu kommen. Ich sehe darin das Bild des Todes, die Menschheit ist das Korn, das gemäht wird. Aber in diesem Tode liegt nichts Trauriges; es geschieht am hellen Tag mit einer Sonne, die alles mit Licht und überreichem Gold überstrahlt.
     
    VINCENT VAN GOGH
    an Theo van Gogh, Saint-Rémy-de-Provence, September 1889
     

Heimkehr
     
     
    Arles, November 1888
     
    D
    ie Kutsche holpert über sturmgepeitschtes Land, während wir uns unserem Ziel nähern. Arles, Anfang und Ende von allem. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich mich unendlich nach meiner He i matstadt gesehnt habe, ohne etwas von me i nen Wunsch zu wissen.
    Ich sitze neben Frédéric in der Kutsche, blicke aus dem Fenster und betrachte einen Ausschnitt der Chaîne des Alpilles , die in einem Wirbel aus dunklem Violett und Blau an uns vo r beigleitet. Das Land ist karg, erstarrt in winterlicher Kälte , und gepeitscht von trockenem Sturmwind. Hinter den Bergen steht die orange glühende Sonne.
    Die Zeit ist schwerfällig und gleichzeitig viel zu schnell ve r strichen. Seit meinem Anfall sind viele, viele Tage vergangen. Mit der Zeit sind meine ängstlichen und zornigen Gefühle e i ner inneren Ruhe gewichen, an die ich mich noch gewöhnen muss. Costantinis Stimme habe ich nicht mehr gehört. Ich weiß, dass es so bleiben wird, wenn ich Willems Worte nicht vergesse und mir von Frédéric helfen lasse.
    Ich habe die Tage lesend und schreibend im Bett verbracht und bin nur selten aufgestanden, um Spaziergänge zu unte r nehmen oder im warmen Schankraum des Wirtshauses etwas zu essen oder zu trinken. Frédéric ist in all d er Zeit kein einz i ges Mal von meiner Seite gewichen.
    In den langen Stunden zwischen Morgendämmerung und Abendlicht bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich s o wohl die düsteren Gedanken an Willems Tod als auch jene über Costantini von mir werfen muss, um zu mir zurückzufi n den. Es war eine schwierige, sogar schmerzhafte Entsche i dung, die mich größte Entschlossenheit gekostet hat – eine Entschlossenheit, von der ich nicht weiß, ob sie überhaupt in mir steckt und ob ich sie aufbringen kann. Es war Frédéric, der mich ermutigt hat, an ihr festzuhalten. »Gib nicht auf«, hat er gesagt und mich zum ersten Mal seit Tagen wieder in den Arm genommen.
    Danach haben wir nie wieder über das Geschehene gespr o chen. Frédéric ist bei mir. Das ist mehr, als ich von ihm ve r langen kann. Es ist nicht seine Aufgabe, sich über meine Äng s te und Sorgen Gedanken zu machen; ich habe begriffen, dass ich niemanden und vor allem nicht ihn damit belasten darf. Auch Willem hat das nicht getan, etwas, das ich noch vor w e nigen Wochen nicht begriffen, sogar verurteilt habe , und das ich nun in einem anderen Licht sehe. Er hat niemandem die Last seiner Krankheit aufbürden wollen. Lieber ist er gesto r ben.
    Ich habe seit seinem Tod in dem Glauben gelebt, dass mir niemals wieder ein Mensch so viel bedeuten wird wie er, mein verstorbener Bruder. Frédéric hat diese Grenze überschritten, hat meine Überzeugung mir nichts, dir nichts über den Haufen geworfen.
    Es wird noch viel Zeit verstreichen, bis mein Leben wieder in Bahnen verläuft, die andere Menschen als normal bezeic h nen. Ich weiß, ich werde es niemals in der Hand haben, aber das ist sowieso unmöglich, eine weitere Sache, die mich der Schmerz, meine zerbrochenen Träume und flüchtigen Wunschvorstellungen gelehrt haben. Und ist es nicht so: Die Kontrolle zu verlieren bedeutet, frei zu sein. Der Pakt, den es nur in meinem Inneren gegeben hat – ich habe ihn aufgelöst.
     
    Meine Eltern reagieren auf meine Heimkehr so, wie ich ve r mutet habe: Cornélie bricht in Tränen aus und umarmt mich noch auf dem Treppenabsatz, Théodore mustert mich aus Augen, in denen eine Mischung aus Zorn und Erleicht e rung brennt. Sie machen beide kein Aufhebens um meine Re i se, wohl aber um meine Krankheit und die Sorgen, die Adélaïde und sie sich gemacht haben. Frédéric erzählt ihnen alles, was es zu wissen gibt, ich begegne seiner Hilfe ausnahmsweise einmal mit nichts anderem als stiller Dankbarkeit.
    Nach unserer Rückkehr nimmt Frédéric seine Arbeit wieder auf, sodass wir uns seltener sehen. Ich frage mich hä u fig, was meine Eltern über ihn und darüber, dass er mich auf meiner Reise begleitet hat, denken. Zwar verlieren sie kein
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