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Léonide (German Edition)

Léonide (German Edition)

Titel: Léonide (German Edition)
Autoren: Charlotte Schaefer
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Costantini ist aus meinem Leben verschwunden, als hätte er nie existiert. Ich beginne, Willems Bilder zu sortieren und zu verkaufen – ich weiß, wenn ich nur hartnäckig genug bin, wird man den Namen meines Bruders bald überall kennen und nie wieder vergessen. Seine Bilder sprechen ihre eigene Sprache, die stumm in der Auswahl der Farben und dem lebhaften Schwung des Pinsels widerhallt. Willem ist tot, doch er ist nicht gestorben. Zu seinen Lebzeiten konnten ihn nur wenige lieben, und niemand wollte ihm zuhören, und vielleicht we r den sie das nie. Vielleicht ist diese Welt niemals der richtige Ort für ihn gewesen – vielleicht ist er seiner Zeit schlichtweg vorausgeeilt.
    Vielleicht.
     
    Es ist der letzte Tag im November. Die Wolken hängen tief am graublauen Himmel, obwohl die Sonne scheint, klirrt die Luft vor Kälte. In nur wenigen Tagen werde ich mein Elter n haus verlassen, um bei Frédéric zu leben. Ein Gefühl von Endgültigkeit, ein symbolischer Akt von Ende und Neuanfang.
    Nachdem Frédéric seinen letzten Patienten versorgt hat, m a chen wir einen Spaziergang durch Arles. Das erinnert mich an hellere, wärmere Tage – an Tage im August und an blende n den Sonnenschein, der die Gedanken verzehrt, bis sie nichts weiter sind als trockenes Gras. Ich schließe die Augen, atme tief ein und spüre die prickelnde Hitze der Sonnenstrahlen auf den Lidern. Als ich die Augen wieder öffne, ist das Licht nur noch ein weißer Kranz inmitten eines farblosen Himmels.
    Frédéric hat mich beobachtet. Als sich unsere Blicke treffen, grinst er. Das erste Mal seit Wochen.
    Wie sehr ich dich vermisse.
    Ich ahne, welche Worte ihm auf den Lippen liegen, obwohl er sie nicht ausspricht.
    Ich bin glücklich. Der glücklichste Mann in Arles, nein, in ganz Frankreich, ich bin der glücklichste Mensch auf der ganzen Welt.
    Was er ausspricht, sind andere Worte, eindringlicher, düst e rer. Das Lächeln auf seinen Lippen wird zur Maske.
    »Ich hatte solche Angst. Angst, dass du dasselbe tun kön n test wie damals Camille. Nicht während eines Anfalls, sondern aus freien Stücken. Manchmal, wenn ich die Augen schließe, ist sie wieder da, Camille und diese Angst … Aber ich rede U n sinn: Ich bin nur froh, dass es dir besser geht .«
    Genau dafür bin ich in meiner Abkehr von der Welt blind gewesen: für Frédérics Angst, mir könnte dasselbe passieren wie damals Camille. Trotzdem hat er kein Wort darüber verl o ren, niemals.
    Vor meinen Augen erscheint ein Bild der jungen Camille, wie meine Vorstellungskraft sie zeichnet – die Haare lang und goldblond, das Gesicht zart, die Lippen voll, immer umspielt von einem teils koketten, teils schüchternen Lächeln. Das Mädchen, das sich umgebracht hat, als es von seiner Schwa n gerschaft und der Ausweglosigkeit seiner Situation erfuhr.
    » Du dachtest, ich würde meinem Leben ein Ende setzen. «
    Er gibt keine Antwort. Das braucht er auch nicht – ich lese sie in seinen Augen.
    Ja. Diese Angst, dass du es deinem Bruder gleichtun würdest, wie du es schon einmal versucht hast. Ich bin froh, dass du den anderen Weg g e wählt hast. Dass du dich für das Leben entschi e den hast.
    D as habe ich, und ich verdanke es Willem. Willem, der mir gezeigt hat, dass meine Zeit noch nicht gekommen ist. Der an Frédéric glaubt und mir versichert hat, dass es da draußen Menschen und ein Leben gibt, das darauf wartet, von mir g e lebt zu werden.
     
    Die Gassen und Plätze liegen still, wie ausgestorben in der Abendsonne. Keine Menschen, keine herumstreunenden Ka t zen, keine Tauben, die sich gurrend auf dem Brunnen des Place de la Republique und seinen steinernen Löwenköpfen tummeln. Es ist, als hätte die Welt den Atem angehalten; als hätte sich eine Maske über ihr Gesicht gelegt.
    Unsere Schritte führen uns wie von selbst zum Amphithe a ter. Als wir vor dem zerfallenden Bauwerk stehen, das sich wie ein Riese aus Stein und Fels in den Himmel reckt, überkommt mich wieder jenes Gefühl von Ehrfurcht und Erinnerung, das ich auch damals, als ich Costantini zum ersten – nein, das ei n zige Mal – getroffen habe, empfunden habe. Doch diesmal betrachte ich das Theater nicht im Dunkeln, sondern im schwächer werdenden, aber klaren Licht eines Wintertages. Der Eindruck ist gänzlich anders und doch ähnlich: Ein ve r wittertes Bauwerk, das im Lauf der Zeit zur Heimat von Ta u ben geworden ist, die sich in den hohen, bröckelnden Fenstern eingenistet haben; Efeu, der den Stein langsam, aber
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