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Léonide (German Edition)

Léonide (German Edition)

Titel: Léonide (German Edition)
Autoren: Charlotte Schaefer
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sicher dem Verfall preisgibt, sich wie ein Geschwür durchs Bauwerk frisst und nichts als feinen Staub und Steinsplitter zurücklässt. Und dennoch ist das Bild weniger rätselhaft, weniger düster als damals. Ich erkenne das Wunder von Zerstörung und Wiede r geburt in jedem Kiesel und jedem Grashalm. Ein Vermächtnis des Menschen, das stirbt, um wieder der Natur übergeben zu werden. Ein niemals endender Kreislauf, in dem Lebewesen der Erde übergeben werden, um andere ins Leben finden zu lassen – ein tröstlicher Gedanke.
    »Ich hatte auch Angst«, sage ich in die Stille hinein. »Genau genommen habe ich das noch immer – Angst vor dem, was kommen wird.«
    Frédéric tritt hinter mich und legt seine Arme um meine Schultern. Trotz der Kälte trägt er keinen Mantel und hat die Hemdsärmel hochgekrempelt, die Härchen auf seinen Unte r armen wirken im Licht des schwindenden Tages fast durc h scheinend. Er sagt nichts, die Stille um uns herum dehnt sich aus, doch sie ist nicht unangenehm, eher lichtdurchflutet.
    Als wir uns voneinander lösen, tritt Frédéric einen Schritt zurück. Ich schaue in den Himmel auf, dessen blasses Grau sich in ein Meer aus Dunkelblau und Rot verwandelt hat, und warte reglos, während der Tag in die Nacht übergeht. Als ich Frédéric bitte, schon vorauszugehen und mich eine Weile allein zu lassen , wirft er mir einen nachdenklichen Blick zu, wide r spricht aber nicht. Ich höre, wie seine Schritte von den ste i nernen Säulen des Amphitheaters zurüc k geworfen werden und draußen auf der Straße verhallen.
    Ich bin allein, dennoch summt es in meinen Ohren. Ich se n ke den Kopf und lasse d en Blick über den Kamp f platz, die steinernen Zuschauerreihen und die hohen Fenster schweifen. Als ich mich umdrehe, stiebt eine erschrockene Taube in den Himmel auf. Ihr Flügelschlag wird vom verwitterten Stein z u rückgeworfen.
    Plötzlich höre ich ein Lachen; es dringt heiser aus Richtung der Zuschauerreihen. Das Lachen eines alten Mannes? Fast glaube ich, das Knistern von Papier und Pergament herausz u hören … Nein , denke ich und will es nicht wahrhaben. Lan g sam drehe ich mich um.
    In einer der verwitterten Steinreihen sitzen zwei Männer, die ich beide kenne. Der eine – es ist der, der gelacht hat – hat weißes Haar, eine Haut, die sich wie gegerbtes Leder über se i ne Wangenknochen spannt und eisblaue Augen. Der andere ist jung und hat flammend rotes Haar.
    Costantini und Willem.
    Sie unterhalten sich miteinander und scheinen die Welt um sie herum und mich nicht wahrzunehmen. Willem lächelt, se i ne gebräunte Haut spannt sich straff über die Knochen an Kinn und Wangen. Sein Auge ist unverletzt und sturmgrau; trotz der Entfernung glaube ich, Wolkenfetzen darin vorbe i ziehen zu sehen.
    Und da begreife ich: Begreife, dass die beiden tatsächlich Teil eines Ganzen sind. Es ist, wie Frédéric vermutet und Willem gesagt hat: Costantini ist keine feindliche Instanz, sondern der Name, den Willem seinen Dämonen gegeben hat. Insofern ist Costantini schon immer ein Teil von Willem, Willem schon immer ein Teil von Costantini gewesen.
    Ich habe Costantini immer gehasst, doch nun, da ich die Wahrheit oder zumindest einen Teil davon kenne, ist es u n möglich. Er ist ein Teil von Willems Seele, sein Teufel, sein Tod. Bedeutet das, dass Willems Dämonen nach seinem Tod auch mich verfolgt haben? Oder habe ich ihnen Costantinis Namen gegeben, wie er es getan hat?
    Ganz gleich, wie die Antwort lautet, eines wird mir nun b e wusst: In meinen Halluzinationen und Albträumen haben mich immer nur jene Menschen verfolgt, die loszulassen ich nicht imstande gewesen bin. Willem, der dorthin gegangen ist, wohin ich ihm nicht folgen konnte; Frédéric, den ich fortg e schickt habe und dennoch nicht vergessen konnte; Costantini, dem ich die Schuld am Tod meines Bruders gab.
    Da blicken Willem und Costantini zu mir herüber, als hätten sie meine Anwesenheit erst in diesem Augenblick bemerkt. Ihre Worte verhallen in der sandigen Dunkelheit des Kamp f platzes. Ich warte reglos, ohne den Blick von ihnen abwenden zu können. Plötzlich geht ein Rauschen wie von dunklen Fl ü geln durch die Luft, im nächsten Moment stiebt ein Rabe n schwarm mit lautem Krächzen in den Himmel auf. Danach herrscht eine Stille, die sich wie ein feuchtes Tuch über das Amphitheater legt. Ich bewege mich nicht, aus Angst, sie zu durchbrechen.
    Ich bin mir sicher, dass sich dieser Augenblick, dieses Bild für immer in mein
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