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Leichte Turbulenzen - Roman

Leichte Turbulenzen - Roman

Titel: Leichte Turbulenzen - Roman
Autoren: C. Bertelsmann
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hektisch nach den Stewardessen umzusehen oder angespannt auf verdächtige Geräusche zu lauschen. Um diesen angenehmen Zustand zu erhalten, vergegenwärtigte sie sich sicherheitshalber noch einmal die wichtigsten Passagen aus dem Ratgeber:
    Turbulenzen bedeuten für ein modernes Flugzeug keine größere Bedrohung als Kopfsteinpflaster für ein Auto. Sie mögen unangenehm sein, aber es gibt in der Geschichte der Luftfahrt keinen einzigen Absturz, der von Turbulenzen ausgelöst wurde, und ganz sicher gilt: Bedrohlich sind sie nicht.
    Gleich würde sich das Flugzeug träge Richtung Rollfeld in Bewegung setzten, dann gab es kein Entrinnen mehr. Dann war es zu spät auszusteigen. Ivy atmete tief ein und aus. War es vielleicht doch ein Fehler, dass sie sich entschlossen hatte, sich der Technik hinzugeben? Würde sie ihren Mut gleich mit dem Leben bezahlen? Langsam öffnete sie die Dose. Die kleine perfekte Welt darin hatte in Javis Obhut keinen Schaden genommen. Im Obergeschoss befand sich das winzige, aufgeräumte Badezimmer mit Wanne, Waschbecken und Toilette. Das pinkfarbene Handtuch hing noch am Halter, die Shampooflasche stand im Regal. In der ersten Etage lagen der gelbe Hut von Polly Pocket auf dem frisch gemachten Bett, und das hellblaue Buch aufgeschlagen auf dem violetten Schreibtischchen. Im Erdgeschoss war der Küchentisch gedeckt, die lilafarbene Katze hockte brav in ihrer Ecke, und im Wohnzimmer saß Polly auf dem pinkfarbenen Sofa, neben sich das hellblaue Telefon und eine gelbe Stehlampe. Im hübsch bepflanzten Garten stand der Liegestuhl bereit. »Hallo, kleine Polly!«, flüsterte sie ergriffen. »Ich bin’s, Ivy!«
    Die letzten Passagiere eilten in den Flieger und suchten sich, mit Blick auf die Sitznummern, ihre Plätze. Schwer atmend stopften sie ihr sperriges Handgepäck in die restlos überfüllten Gepäckablagen. In knapp zwei Stunden würde Ivy in Berlin landen und ihre gebeutelte Schwester und den tapferen Peer in die Arme schließen.
    Ivy ließ die Dose zurück in die tannengrüne Harrods-Tüte gleiten. Aus dem Augenwinkel sah sie hinüber zu Platz 28a. Ivy versuchte sich zu erinnern, wie es gewesen war, neben Desmond zu sitzen. Sie wollte seine Blicke und seine Mimik rekonstruieren, als säße er jetzt wieder dort. Dann hätte sie mit Sicherheit beim Start kaum Angst gehabt. Sie hätten sich viel zu erzählen. Wenn sie nur wüsste, wo er war.
    Wenn Sie der erste Mensch auf der Erde und unsterblich wären, hätten Sie von Ihrer Geburt an bis zum Jahr 2011 nonstop herumfliegen können, ohne ein einziges Mal den Ausfall von zwei Triebwerken gleichzeitig erlebt zu haben. Die Wahrscheinlichkeit läge bei eins zu 100 000 000 000 000, und um überhaupt diesen unwahrscheinlichen Fall zu erleben, müssten Sie noch weitere 100 000 Millionen Jahre alt werden, das entspräche dem Hunderttausendfachen der Zeit, die ein Mensch im Durchschnitt lebt.
    Ivy schaltete ihr Handy aus und ließ es ebenfalls in die Harrods-Tüte plumpsen. Sobald sie abgehoben hatten, und abzusehen war, dass der Flieger in der Luft blieb, würde sie das nach Staub riechende Fotoalbum aufschlagen und sich die Bilder ansehen, die mittlerweile bestimmt alle einen leichten Rotstich aufwiesen, wie fast alle Fotografien, die Anfang der Siebziger aufgenommen worden waren. Ivy war sich sicher, dass sie kein Foto ihrer Mutter darin finden würde. Aber dafür eine Menge Schnappschüsse von Tante Agnes, die sich unwillig hinter Regentonnen, Bretterverschlägen und Onkel Hans’ umgedrehten Ruderboot versteckte. In der nächsten Woche würde sie sich mit der inzwischen erwachsenen Emma Watson treffen, um von Kopf bis Fuß Maß zu nehmen. Sie würden sich beraten, in welcher Pose sie sich verewigen lassen wollte und in welchem Kleid. Vielleicht in dem schwanenhaften von Oscar de la Renta. Darin hatte sie auf dem Trafalgar Square das Ende einer Ära gefeiert und furchtbar geweint. Ja, Warum sollte nicht auch mal eine Wachsfigur weinen? Eine weinende Emma Watson. Das wär’s!
    »Lassen Sie mich durch?«
    »Bitte?« Ivy schlug die Lider auf und sah hinauf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Desmond Gayle stand lächelnd neben ihrem Platz im Gang, über der Schulter hing sein schwarzer Nike-Rucksack. Ivy zwinkerte, ohne sich zu rühren. Reines visualisierendes Wunschdenken. Sicherlich gab es so etwas. Verdurstende in der Wüste sahen doch auch am Horizont glitzernde Wasserfälle und üppig gefüllte Obstkörbe. Da sich Ivy beinahe
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