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Leichte Turbulenzen - Roman

Leichte Turbulenzen - Roman

Titel: Leichte Turbulenzen - Roman
Autoren: C. Bertelsmann
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sicher war, dass Desmond unmöglich neben ihr stehen konnte, streckte sie ihre Hand nach seinem Bein aus, das in einer hellen Cargohose steckte, und fasste zu. Sie berührte einen Widerstand, der sich wie trainierte Muskelmasse anfühlte. Um sich zu vergewissern, dass all das echt war, fuhr sie mit der Hand ein Stück am Oberschenkel hinauf. Offenbar stand hier tatsächlich ein Mann neben ihrem Platz, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Desmond hatte. Eilig zog Ivy ihre Hand zurück.
    »Verzeihung … Natürlich.« Umständlich schnallte sie sich ab und sprang von ihrem Platz auf, wobei sie dem Mann versehentlich auf den Fuß trat. »Entschuldigung.«
    »Kein Problem.« Der Mann, der aussah wie Desmond, nahm seinen Rucksack ab und zwängte sich an Ivy vorbei auf den Platz am Fenster. Sobald er saß, verstaute er seinen Rucksack unter dem Vordersitz, genau wie beim letzten Mal. Er lehnte sich zurück und lächelte Ivy erwartungsvoll an, als sie sich sofort wieder anschnallte. Dabei vermied sie es tunlichst, ihn anzusehen, um sich nicht durch ein breites Grinsen zu verraten. Mit ernster Miene ließ sie die Schnalle zuklicken und überlegte, was sie sich zur Ablenkung ansehen konnte. Neben der Harrods-Tüte lag der Anti-Flugangst-Ratgeber. Den nahm sie hoch ohne, dass Desmond das Cover sehen konnte. Sie blätterte das Buch auf und las immer wieder folgende Passage:
    Haben Sie jemals Sorge gehabt, dass die Erde aufhören könnte, sich zu drehen? Natürlich nicht! Weil dieser Fall so unwahrscheinlich ist, dass es sich gar nicht lohnt, weiter darüber nachzudenken. Genauso ist es mit dem Fliegen. Die Wahrscheinlichkeit, dass etwas Bedrohliches passieren könnte, ist so minimal, dass Sie auch darüber nicht weiter nachzudenken brauchen!
    Desmond hörte nicht auf, Ivy anzustarren. Er konnte sein Glück nicht fassen, dass sie tatsächlich wieder neben ihm saß. Wie oft war er in den letzten Monaten auf Platz 28a geflogen, in der Hoffnung, diese Frau wiederzusehen, die sich mit Ivy vorgestellt hatte. Er strahlte, und beinahe hätte er seine Hand nach ihrem Unterarm ausgestreckt, der auf der Armlehne lag, um ihn kurz und kräftig zu umfassen. Wie schön sie aussah. Ihre Wangen waren leicht gerötet, um den Hals trug sie ein buntes Tuch. Ihre schwarz getuschten Wimpern bogen sich mit Schwung nach oben. Offenbar freute sie sich nicht sonderlich, ihn zu sehen, auch wenn sie ihm erst am Morgen Fotos von ihrem fertigen Vincent van Gogh gemailt hatte. Allerdings kommentarlos. Und auf seine vorherige Mail war sie auch nicht angesprungen, die er ihr sofort auf ihre erste Mail zurückgeschickt hatte. Womöglich hatte er sich in den vergangenen Monaten in eine ausschließlich für ihn stimmige Liebesgeschichte hineingesteigert, die ihn zu schöpferischen Höchstleistungen motiviert hatte. Nicht der Liebeskummer war es, der ihn eifrig komponieren ließ, sondern die Verliebtheit, die Begeisterung darüber, dass es tatsächlich einen Menschen auf dieser Welt gab, der für ihn wie geschaffen war. Doch, so wie es jetzt aussah, würde die von ihm ersponnene Zukunft eine reine Illusion bleiben. In Gedanken hatte er sie mit nach North Carolina genommen und war mit ihr hinunter zum Hafen gelaufen. Eng umschlungen waren sie abends barfuß den Sandstrand entlang geschlendert und hatten sich vom Wind die Haare zerzausen lassen. Er war mit ihr an den flachen Outer Banks entlanggesegelt. Gemeinsam hatten sie bei ihm zu Hause am Esstisch gesessen und sich angeregt über ihre Pläne unterhalten. Sie hatten gelacht und sich in der Nacht im Gästezimmer seiner Eltern geliebt.
    Er war für sie zu einem Stück Kiefernwald mit Lichtung geworden, auf der die Leute saßen und Bier tranken. Sie waren nach New York geflogen, um sich in den Hamptons die schönsten und unbezahlbarsten Strandhäuser für den Lebensabend anzusehen. Mit dieser Frau hatte er, in den Dünen sitzend, hinaus aufs milchige Meer gesehen.
    Und nun war er ihr so nah. Ein Sitzplatz trennte sie von einander. Nur: Erkannte sie ihn am Ende nicht mehr? Beharrlich blätterte sie in diesem Taschenbuch herum, wobei ihre Augen ruhelos über die Zeilen wischten. »Haben Sie Angst?«
    Ivys Blick flog nach oben, direkt in seine Augen. »Bitte?«
    Desmond schnallte sich an. »Ich hab gefragt, ob Sie Angst haben.«
    »Wovor?« Ivy konnte nicht anders, als so zu tun, als hätte sie keine Ahnung, was er meinte.
    »Na ja«, Desmond wand sich und schob verlegen die Fensterluke hoch. Und sofort wieder herunter,
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