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Leichentücher: Psychothriller (German Edition)

Leichentücher: Psychothriller (German Edition)

Titel: Leichentücher: Psychothriller (German Edition)
Autoren: Marko Hautala
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den Rücken zu und schlurften davon. Bald waren sie nicht mehr zu sehen.
    »Eine Exekution«, flüsterte Reijo Olavi zu.
    »Nee, verdammt«, sagte Olavi. »Warum?«
    »Wahrscheinlich haben die Hiesigen rebelliert. Sieht doch jeder, wie schlecht es um die Sache der Deutschen steht.«
    »Das sollte doch schon erledigt sein«, protestierte Olavi, als könnte Reijo irgendetwas ausrichten.
    Das Motorengeräusch war verstummt, stattdessen schallten nun Befehle und Gezeter zwischen den Baumstämmen hindurch. Bald tauchte eine bunte Menschenschar auf. Männer, Frauen, alte Leute. Sogar einige Kinder.
    »Das sind doch keine Widerstandskämpfer«, sagte Olavi.
    »Bestimmt haben sie welche versteckt«, antwortete Reijo.
    »Wirst du schießen?«
    »Natürlich«, zischte Reijo durch die Zähne. »Vielleicht am Ziel vorbei, aber schießen müssen wir.«
    Die Hinrichtungsopfer wurden mit Gewehrläufen an den Rand der Grube gestoßen. Das Gezeter wurde lauter, als auch die letzten begriffen, worum es ging. Eine Frau drückte den Kopf ihres Kindes an die Brust, damit es die Grube nicht sah. Einige der Männer drängten sich nach vorn, als zitternderSchild für ihre Familie. Der Mensch war ein zähes Tier, hing bis zum Schluss am Leben. Zwischen den Erwachsenen stand ein Junge mit Schirmmütze, der einen großen grauen Sack in der Hand hielt, den Stoff streichelte und mit dem Sack flüsterte wie mit einem Schoßtier. Er war sicher mindestens zehn Jahre jünger als Olavi und zutiefst überzeugt, dass er davonkommen, mit dem Sack über der Schulter weggehen würde. An den Tod glaubte wohl keiner jemals wirklich.
    »Schau immer nur auf die Stiefelspitzen«, riet Reijo. »Und wenn du den Befehl hörst, legst du los. Stell dir vor, es wäre Vieh.«
    »Vieh.«
    »Alte Kühe am Rand der Grube. Es gibt tausendmal Schlimmeres auf der Welt.«
    »Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
    »Du kannst es, weil du musst. Sonst siehst du die Frau nicht wieder. Die sind jetzt ein verzweifelter Haufen, die Deutschen. Stell dein Glück nicht auf die Probe. Schau einfach woandershin.«
    Olavi senkte den Blick. An seinen Stiefeln klebten getrockneter Schlamm und Laub. Die Stiefelspitze hatte die dünne Eisschicht auf einer Pfütze aufgebrochen. Darunter blitzte eine Spielkarte hervor, eine Herz Acht. Die Farben waren noch kräftig, sie leuchteten durch das trübe Wasser, als hätte man die Karte gerade erst aus dem Blatt genommen. Wie war sie hierhergeraten, in den unbewohnten Wald? Olavi starrte auf die rote Acht und das Herz, dachte an die Druckerei, in der die Muster und Farben aufgedruckt worden waren, an die Hände, die die Karten ausgeteilt hatten. Er umklammerte sein Gewehr, als fürchtete er, zu fallen, in die Schlingen der Ziffer gesogen zu werden.
    Ein Befehl ertönte.
    Olavi reagierte erst, als Reijo ihn schubste. Zehn schwankende Mauser zielten auf die Schar. Man hörte nur das Rauschender Bäume und die Klage, die nun wie aus einem Mund zu kommen schien. Kein einzelnes Wort, kein einzelnes Weinen war herauszuhören. Die Klage stammte nicht von einem einzelnen Menschen, sie kam von weit her.
    Olavis Puls pochte so heftig an den Schläfen, dass ihm schwindlig wurde. Er hielt den Blick starr auf das Visier geheftet. Die Menschen dahinter waren nur eine bewegliche wogende Masse. Es war tatsächlich Vieh. Keine Männer und Frauen mehr, keine Kinder und Erwachsene, nur im Wind schwankendes Heu, das fallen musste. Für die Welt würde gesorgt sein, darum würden sich die Lebenden kümmern. Olavi war plötzlich völlig ruhig. Sein Blick löste sich vom Visier und richtete sich auf die Menschenschar dahinter. Haut, Sehnen und zerlumpte Kleider. Schlachtvieh der Geschichte, das brüllte, weil es nicht begriff, dass das, was hier geschah, nichts Besonderes war. Es gab tausendmal Schlimmeres auf der Welt.
    Feuerbefehl. Der um den Abzug gekrümmte Finger zuckte wie hundertmal zuvor bei den Übungen. Die Waffe schlug gegen die Schulter. Olavi sah verzerrte Gesichter, auf die Knie gefallene Greise, sich krümmende, geschlechtslose Körper. Wie klein sich der Mensch zusammenkauerte, wenn das Dröhnen der Waffen einsetzte. Schlachtvieh.
    Dann sah er die Frau.
    Zwischen zwei alten Männern. Das rote Kleid. Das im Schrei erstarrte Gesicht, als käme alles Weinen aus diesem einen Mund. Das Geräusch ertrank im Getöse der Schüsse. Eine menschliche Gestalt fiel, als hätte die Erde ihr wurzliges Maul aufgerissen. Der Nachtrupp marschierte auf Befehl zur Grube, mit
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