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Leichenschrei

Titel: Leichenschrei
Autoren: Vicki Stiefel
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würde Noah, so wie ich ihn kannte, alles wie kleine Vergehen aussehen lassen und mit einer Verwarnung davonkommen.
    Zugegeben, er hatte Mut bewiesen. Seine Schulterverletzung hatte sich als Streifschuss herausgestellt, und es war ihm gelungen, Will das Lenkrad aus der Hand zu reißen. Sie hatten auf halbem Weg nach Bangor einen Unfall gehabt, und ein Polizist war ihnen zu Hilfe geeilt, sehr zu Wills Missfallen natürlich.
    Die Anschuldigungen gegen Will wogen schwer. Dazu gehörten sowohl Beihilfe zum Mord als auch versuchter Totschlag. Hank behauptete, Will würde für lange Zeit hinter Gitter wandern, aber ich hatte so meine Zweifel.
    Will war genauso ein Opfer von Joy gewesen wie alle anderen auch.
    Die arme Joy. Sie war so clever gewesen. Die Ironie war mir nicht entgangen – ich hatte meine Köder ausgelegt, während Joy all diese Fallen aufstellte. Und doppelt ironisch war die Tatsache, dass ebendiese Fallen sie getötet hatten, während sie das Leben ihres geliebten Sohnes rettete.
    Annie hatte Scooter zu sich genommen und sprach von Adoption. Steve war ganz dafür. Bis Scooter erwachsen war, hatte vielleicht irgendein brillanter Forscher eine Möglichkeit gefunden, die Folgen von Chorea Huntington abzufangen. Und vielleicht würde Scooter nur solch unbedeutende Symptome wie sein Großvater Daniel zeigen. Carmen hatte mich mehrere Male besucht. Wie Veda und Bertha hatte sie sich in eine Glucke verwandelt und mich mit einem Festessen aus ihrem Bio-Restaurant versorgt. Meine Verletzung verhalf uns eindeutig zu stilvollen Mahlzeiten.
    Sie versuchte, mich zu überreden, in Winsworth zu bleiben. Doch noch während sie das sagte, wusste sie, dass Boston und der Kummerladen meine Welt waren. Ich lud sie dorthin ein und ahnte, dass sie höchstwahrscheinlich nicht kommen würde, aber sie wusste, dass ich nach Winsworth zurückkehren würde. Meine Erinnerungen und mein Herz hingen zu sehr daran.
    Dann war da noch Onkel Lewis, der mich in meiner zweiten Nacht im Krankenhaus gegen zwei Uhr morgens fast zu Tode erschreckt hatte. Er hatte sich hereingeschlichen und war sehr stolz darauf gewesen. Er sagte mir, dass er nur »nach dem Rechten« sehen wolle. Ich erhielt weiterhin Post-its, die alle mit »OL« unterschrieben waren.
    Das Telefon klingelte, und da ich ständig von Reportern bedrängt wurde, ließ ich Hank drangehen.
    Mit angespanntem, düsterem Gesicht reichte er mir den Hörer.
    Es war Kranak, der wegen einer anstehenden Gerichtsverhandlung anrief. Ich sollte den Eltern eines Jungen beistehen, der von seinem eigenen Onkel ermordet worden war. Ein schwerer Fall. Als ich aufgelegt hatte, schlang ich die Arme um Hank.
    »Wir sind nur gute Freunde, das ist alles«, sagte ich.
    »Er ruft ständig an, verdammt noch mal.«
    »Ich weiß. Dabei geht’s um die Arbeit.«
    Hank sagte nichts, und ich wusste, dass er über uns und unsere zukünftige, getrennte Existenz nachgrübelte.
    Wieder klingelte das Telefon, und da Hank gerade mit Peanut und Penny draußen war, nahm ich ab.
    »Hallo, Miss Whyte. Hier spricht Dr. Dexter Shelton, Leiter der Gerichtsmedizin von Maine, und ich habe ein Angebot für Sie.«
    Eine Viertelstunde später legten wir auf. Ich ließ mich aufs Sofa plumpsen, sodass mein Gips hochhüpfte und der Schmerz in mein Bein schoss. Ich hatte nicht gewusst, was ich dem Mediziner antworten sollte, also hatte ich einfach zugehört. Er hatte mir ein ziemlich großzügiges Angebot gemacht, sollte ich einwilligen, fortan als Trauerberaterin für den Bundesstaat Maine zu arbeiten.
    Hank kam zurück, und nachdem wir den Hunden ein Leckerli gegeben hatten, sah ich ihn an.
    »War der Anruf des Leichenbeschauers deine Idee?«, fragte ich.
    Er setzte sich neben mich auf die Couch. »Sozusagen. Ich habe mit ein paar Leuten gesprochen. In Bangor. Mit der State Police. Mit dem Büro der Gerichtsmedizin in Augusta. Wir könnten, ähm, hier oben eine Trauerberaterin brauchen. Du müsstest herumreisen. Dahin fahren, wo die Fälle passieren. Aber du könntest es von Winsworth aus tun.«
    »Wow.«
    Hank war nicht glücklich über die anstehende Trennung, genauso wenig wie ich. Aber das MGAP und Boston, meine Freunde und meine Familie zu verlassen, um hier in Maine zu leben, kam mir mehr wie ein Wunschtraum denn wie die Wirklichkeit vor. Und jetzt hatte man mir hier einen Job angeboten. Einfach so. Ich konnte das tun, was ich so schätzte, was ich tun musste.
    Ich seufzte. »Ich weiß nicht, Hank.«
    »Denk darüber
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