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Leichenschrei

Titel: Leichenschrei
Autoren: Vicki Stiefel
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und holte mir selbst ein Mineralwasser aus dem Kühlschrank. Mann, war das heiß. Zum tausendsten Mal wünschte ich mir, ich könnte die Fenster aufmachen. Kein Lüftchen ging an diesem verdammten Ort.
    Ich stand kurz davor, bei einer Obduktion vorbeizuschauen, nur, um mir Abkühlung zu verschaffen.
    Ich griff nach der dritten Notiz, las sie und musste mich erst einmal setzen. Die Notiz war für eine Emma Blake. Huch. Gert hatte ein großes lila Fragezeichen daneben gemalt. Kein Wunder. Das war ein Name, den ich seit Jahren nicht gehört hatte. In einem anderen Leben und bevor ich bei meinem Spitznamen Tally geblieben war, war ich diese Emma gewesen. Und vor einer umstrittenen Heirat und einer noch umstritteneren Scheidung hatte mein Nachname Blake gelautet.
    »Gert, hast du den Anruf entgegengenommen?« Ich wedelte mit dem Zettel, als ich ins Hauptbüro kam.
    »Ja. Ein Typ. Tiefe Stimme. Rau. Atemlos. Meinte, ich soll die Nachricht Tally geben. ›Die wird Bescheid wissen‹, hat er gesagt. Und, tust du das?«
    »Tu ich was?«
    »Na, Bescheid wissen.«
    »Über das ›wer‹ schon, aber das ›worüber‹ erschließt sich mir nicht. Hat er nicht mal angedeutet, was er wollte?«
    Sie blies eine violette Kaugummiblase und sog sie wieder ein. »Nein. Klang aber eindeutig nicht ganz dicht. Ich hab mir gedacht, dass es was mit dem Schnitter zu tun hat.«
    Mein Herz raste, aber ich nickte nur bemüht gleichmütig. Gert wusste, dass mit mir etwas nicht stimmte. Wir hatten zusammen schon eine Menge durchgemacht. Sie blies eine weitere Blase und widmete sich wieder ihrer Büroarbeit.
    Emma Blake. Diesen Namen hatte ich seit fast zwanzig Jahren nicht gehört. Wer sollte sie sprechen wollen? Und warum?
    Eine Woche später. Ich begleitete eine Frau zu einem Gerichtstermin, deren Eltern im Vorbeifahren erschossen worden waren. Ich fuhr zum Abendessen zu meinen Pflegemüttern, von denen eine zufällig auch die Leiterin der örtlichen Gerichtsmedizin ist. Ich machte Beratungen, erledigte Papierkram und tollte mit Penny im Park.
    Aber ich bekam keinen Anruf von einem gewissen Mr Atemlos, in dem es um Emma Blake ging.
    Aber als er dann kam, war ich völlig unvorbereitet.
    * * *
    Zum wiederholten Mal sah ich auf die Uhr. Sergeant Rob Kranak von den Crime Scene Services, einer Einheit der Spurensicherung, hätte mich bereits vor einer Stunde anrufen sollen, um mir die Ergebnisse der forensischen Untersuchung einer kopflosen Leiche aus dem Charles River mitzuteilen. Als dann das Telefon klingelte, war ich ein klitzekleines bisschen genervt.
    »Rob, wie kann es sein …«
    »Emmaaaaaaa«, sagte eine Stimme und zog das Endungs-A in die Länge.
    »Wer ist da?«
    »Es geht um deinen Vaaaater. Er hat doch gar nicht getan, was da behauptet wird. Du musst kommen.«
    Himmel. Dieser Kerl klang ja wie jemand, der in den Geschichten aus der Gruft mitspielte. »Was soll mit meinem Vater sein? Wovon reden Sie?«
    »In Winsworth werden alte Geschichten ausgegraben. Böse Geschichten. Und dein Vater hat das alles nicht getan. Komm her. Oder es kommt noch schlimmer. Du musst kommen.«
    »Wer ist …«
    Klick.
    Im Display war nichts zu sehen. Der Anrufer hatte seine Nummer unterdrückt.
    Was zum Teufel ging hier vor sich?
    Eine weitere Woche verging. Ich begleitete Gert zu einer Galerieeröffnung. Ich besuchte mit Penny die Hundestaffel in Stoneham, wo sie mit ihren alten Kameraden herumtollte. Ich beendete eine zehnmonatige Gruppentherapie mit sehr gutem Erfolg.
    Ich machte noch eine Menge anderer Sachen, aber die meiste Zeit brütete ich über ein und derselben Angelegenheit: diesem Anruf für Emma Blake.
    Der Anrufer kannte mich als Tally und als Emma. Ich ging die Nachricht wieder und wieder durch. Ich sah keinen Grund, nach Winsworth zurückzukehren.
    Winsworth war für mich Nostalgie pur: Segeln mit Dad, auf Apfelbäume klettern mit meinen zwei Freundinnen, Ferienlager am Winsworth River, Goldsterne als Belohnung in der Schule, während eines heftigen Schneesturms die Union Street entlanglaufen, sich mit Hummer vollstopfen. Eine Heimat wie keine andere, die ich seither gehabt hatte, aber auch eine, die ich mit zwölf verlassen hatte.
    Alles in Winsworth hing mit meinem Vater zusammen, und der war, drei Jahre nachdem wir aus Main weggezogen waren, in Boston ermordet worden.
    Ich hatte ihn sogar in Winsworth beerdigen lassen, aber er war ja schon lange tot. Was konnte denn da »noch Schlimmeres« passieren?
    Verdammt, ich war ein Stadtmensch und
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