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Leichenschrei

Titel: Leichenschrei
Autoren: Vicki Stiefel
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Harke einen Weg über die Felsen zum Strand bahnte, um Muscheln auszugraben. Ich entdeckte auch ein Segelboot, eine kleine Friendship Sloop, die am offenen Ende der Bucht im Wind krängte.
    Die Glockenboje klingelte und schaukelte im Kielwasser eines Fischerbootes, das in der engen Einfahrt zur Bucht daran vorbeituckerte. Durch das Gewirr aus Buchen, Eichen und Birken sah ich einem Paar Robben zu, die sich auf einen großen, flachen Stein hievten. Eine hatte einen Fisch im Maul. Die ganze Szene war so idyllisch, dass es mir schon fast Angst machte. Gert wäre sicher entsetzt.
    »Gert?«, sagte ich.
    »Hab’s gleich.«
    Mit einem Ohr war ich bei dem Zeitungsjungen, unter dessen Rad der Schotter auf der Auffahrt knirschte. Ich hatte die zweimal pro Woche erscheinende Lokalzeitung abonniert. Vielleicht stand ja etwas drin über eine Frau auf einem Stein.
    »Tal?«, sagte Gert. »Ich kann nichts finden. Bist du da in was reingeraten?«
    »Ich hoffe nicht.«
    »Du bist eigentlich wegen deines Vaters da oben. Schon vergessen?«
    »Bestimmt nicht, glaub mir. Danke.«
    Die Zeitung rumste gegen die Tür.
    »Muss Schluss machen«, sagte ich. »Ich ruf noch mal an.«
    Ich schlug das Winsworth Journal auf. Letzte Nacht hatte es in der Oyster Bar einen »Aufruhr« gegeben. Ein paar Jugendliche hatten ein Auto »ausgeliehen« und waren damit gegen einen Zaun gefahren. Ernsthafte Verletzungen gab es keine. Aufgrund des Regens war ein Farmer im Schlamm ausgerutscht und hatte sich das Bein gebrochen. Aber keine Vermissten, keine Frau mit einem Messer im Bauch, rein gar nichts, bei dem meine Antennen vibriert hätten.
    »Und, was meinst du, Pens? Angeln?«
    Sie spitzte die Ohren und wedelte mit dem Schwanz. Sie wusste, wovon ich sprach. Ich holte meine Angelrute, und dann überquerten Penny und ich die Straße, gingen einen schmalen, bewaldeten Pfad entlang und kamen an einem entzückenden Fischteich an. Wenn ich einen klaren Kopf bekommen wollte, war Angeln immer eine gute Idee.
    Ich warf die Schnur aus, ließ die Fliege eine Sekunde schwimmen und holte sie dann zack, zack, zack wieder ein. Warf sie wieder aus. Penny schnarchte neben mir in der nachmittäglichen Junisonne.
    Die rhythmischen Bewegungen gestatteten es mir, mich zu konzentrieren, und zwar nicht auf verletzte Hunde, geistesgestörte Männer oder Frauen mit Messern im Bauch, sondern auf die Frage, warum ich überhaupt hier war. Mr Atemlos zufolge waren »alte Geschichten« ausgegraben worden. Jemand wollte den Namen meines Vaters in den Schmutz ziehen. Das konnte andere verletzen.
    Mein Dad war viele, viele Jahre lang mein Ein und Alles gewesen. Ich war es ihm schuldig.
    Es war Zeit.
    Ob es nun riskant war oder nicht: Ich musste meine alten Freunde kontaktieren. Jetzt.

3
Alte Freunde
    Als ich zurück war, schlug ich Carmen Cavasos Namen im Telefonbuch nach und fand ihre Adresse. Sie hatte entweder nicht geheiratet oder ihren Mädchennamen behalten. Vom Wasser wehte eine kühle Brise herüber, also zog ich einen Pulli an, ließ Penny in den Truck springen und fuhr Richtung Stadt.
    Ich fuhr über den Winsworth River, bog erst links und dann rechts in die Gray Street ab. Vor Hausnummer vierundsiebzig parkte ein Minivan in der Einfahrt, ein rosa Fahrrad lag auf dem Rasen.
    Ich hielt an, trommelte mit den Fingern aufs Lenkrad und seufzte. »Was meinst du, Pens?«
    Sie gab keine Antwort. Typisch. Aber sie leckte mein Gesicht ab. Ich drückte sie an mich. »Stimmt, ich bin ein Hasenfuß. Ich muss es machen. Sie war meine beste Freundin.«
    Ich stieg aus dem Auto, und Sekunden später klopfte ich an ihre Tür.
    Eine Frau von Anfang, Mitte dreißig öffnete mir lächelnd. Sie war blond, wie ich, hatte aber glattes Haar. Es schockte mich, dass Carmen ihr tizianrotes Haar gebleicht hatte. Vielleicht war es aber auch nur dunkler geworden und …
    »Hi«, sagte ich. »Äh, Carmen?«
    Die Frau ließ ein mädchenhaft schrilles Kichern hören. »Sie suchen nach Carmen? Die wohnt hier nicht mehr.«
    Dem Himmel sei Dank. Mit diesem Kichern wäre ich nicht klargekommen. »Können Sie mir sagen, wohin sie gezogen ist?«
    Sie zuckte die Achseln. »Weiß ich nicht. Irgendwohin, wo’s ruhig ist, nach dem Schlamassel, in den sie geraten ist.«
    »Schlamassel?«
    Sie kicherte wieder. »Tut mir leid. Mehr weiß ich nicht.« Vorsichtig schloss sie die Tür.
    Ja, und was jetzt?
    Ich konnte heimfahren und sie googeln. Aber ich hatte furchtbaren Hunger, und ein Besuch in unserem
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