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Leichenschrei

Titel: Leichenschrei
Autoren: Vicki Stiefel
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vergraben und redete in seiner Kleinkindsprache mit ihr.
    Wie viel Zeit vergangen war, konnte ich nicht sagen. Wenn ich versuchte, auf die Uhr zu schauen, verschwammen die Ziffern.
    Joy war längst tot. Die rostigen Metallzähne des Fangeisens hatten sich in ihren Hals und ihr Gesicht gegraben. Sie hatte eine gefühlte Ewigkeit geschrien, war aber in Wirklichkeit schnell verstummt. Das Fangeisen hatte ihr entweder das Genick gebrochen oder die Halsschlagader durchtrennt. Ihr Todeskampf würde mir für immer im Gedächtnis bleiben. Dieses »für immer« würde allerdings nicht lange dauern. Ich lag im Sterben. Ich wusste es. Obwohl ich an der Falle gerüttelt hatte, war es mir nicht gelungen, mich zu befreien, und das Blut war unaufhörlich weitergeflossen.
    Ich fragte mich, wie lange ich wohl noch mit Scooter würde sprechen können. Ich hatte schreckliche Angst, dass er aufstehen und zu mir kommen würde.
    Oh, wie sehr ich mir wünschte, Hank wäre hier.
    Ein Auto. Es tuckerte über die Straße. Dann schlug eine Tür, und jemand summte.
    Gott sei Dank. Will würde Scooter retten, obwohl er dafür zweifelsohne mich erledigen würde.
    »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst aufpassen? Gütiger Himmel, Tally.«
    Ich sah ein Paar schäbige Sneakers, dann wurde Scooter hochgehoben, und zwar von …
    »Lewis Draper«, sagte ich.
    Er setzte sich den Jungen auf die Hüfte. »Onkel Lewis, klar?«
    »Onkel Lewis«, murmelte ich, und Tränen strömten mir aus den Augen.
    »Richtig.«
    Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, bis Onkel Lewis mich endlich aus der Falle befreit hatte. Nicht, dass ich mich an viel erinnere, da ich schon bald von den Schmerzen wie betäubt war. Ich kam im Krankenhaus wieder zu mir; mein linkes Bein steckte in einem Gips, und über mir ragte Hank auf.
    Ich hasse Krankenhäuser fast genauso sehr wie Bestattungsunternehmen, und deshalb wagte ich nach zwei langen Tagen und Nächten die Flucht zurück in mein gemietetes Cottage. Gerade rechtzeitig, um von zwei Überraschungsgästen in Empfang genommen zu werden.
    »Veda! Bertha!«
    Sie erdrückten mich fast mit ihren Umarmungen, was gar nicht so leicht ist, da mir meine beiden Pflegemütter nur bis zum Kinn reichen.
    »Ach, meine liebe, liebe Tal.« Jede Menge Herumgeglucke, dann drückte Bertha Hank einfach zwei volle Lebensmittel-tüten in die Hand und führte mich nach drinnen.
    Ich warf Hank einen kurzen Blick zu. Seinen Ausdruck konnte man nur als kämpferisch bezeichnen. Veda und Bertha zusammen können ganz schön einschüchternd sein.
    Eine Woche später humpelte ich zum Balkon vor dem Loft. Von unten drang Töpfeklappern herauf. Seit Veda und Bertha vor zwei Tagen abgereist waren, hatte Hank die Küche zurückerobert.
    »Hank?«, rief ich nach unten. »Bist du sicher, dass es dir nichts ausmacht, mich nach Boston zurückzufahren?«
    »Kein Problem, Babe«, antwortete Hank. »Ich habe mir die nächsten paar Tage freigenommen.«
    »Spitze. Und bist du sicher, dass du heute Abend schon wieder kochen willst?«
    Hank schnitt eine Grimasse. » Sie wollte mich ja nicht ein einziges Mal an den Herd lassen.«
    »Bertha würde nicht mal jemanden wie Julia Child an den Herd lassen.«
    »Oder die Spülmaschine ausräumen.«
    »Armer Hank.«
    »Der Borscht war ziemlich gut«, sagte er. »Für Borscht.« – »Ich liebe dieses Zeug.«
    Hank seufzte. »Ich dachte schon, sie ziehen hier auf Dauer ein.«
    »Sie haben das Cottage für einen Monat gemietet.«
    Angesichts von Hanks schockiertem Gesicht musste ich lachen.
    »Himmel«, sagte er. »Du weißt wirklich, wie man einem Mann Angst macht.«
    Ich warf eine Unterhose in meinen Koffer. Morgen früh würde Hank mich zurück nach Boston fahren.
    Es war eine lange Woche gewesen. Der Tumult, das Krankenhaus, die Fragen, die Journalisten und all die Tränen. Ich fühlte mich noch immer ganz verloren.
    Ich hatte mir die ganze Woche über Vorwürfe gemacht, weil ich die Verbindung zwischen Scooter und Drew früher hätte sehen müssen. Weil ich so Leben hätte retten können. Hank meinte hingegen, dass das lächerlich sei.
    Ich glaubte ihm nur halb, und jedes Mal, wenn ich an Drew und den Jungen dachte, der einst einer kleinen Ballerina ihre Halloween-Süßigkeiten gerettet hatte, stiegen mir die Tränen in die Augen.
    Noah war auf dem Wege der Besserung, obwohl ich bezweifelte, dass es ihm gut ergehen würde, sobald er aus dem Krankenhaus entlassen und einer ganzen Reihe von Verbrechen angeklagt werden würde. Andererseits
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