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Leichensache

Leichensache

Titel: Leichensache
Autoren: Norbert Horst
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machen.«
    »Ich nehme die Körbchen mit zu mir«, sie zieht einen Aktenbock herein, lädt Ordner auf. Die Taube kommt noch einmal zurück, holt sich die restlichen Krümel.
    »Ich muss übrigens gleich kurz weg. Wird nicht lange dauern.«
    Ulla schiebt ab.
    11 Uhr 30
    »Von Anfang an war das abzusehen. Wenn man es sehen wollte, war das abzusehen. Ihm war das anzumerken, dass das nicht immer alles so, na, ich will mal sagen, harmonisch ablief, wie es nach außen schien, besser: scheinen sollte. Ihm war das immer anzumerken. Er ist ja auch so ein ganz Weicher, sie ist da ganz anders, ganz anders. Also, ich hatte da von Anfang an meine Bedenken, so in dem Alter noch eine Bindung. Hatte er doch gar nicht nötig. Ihm ging es doch gut. Versteh, wer will, ich nicht. Und dann noch mit ihr. Na, zwölf Jahre jünger, das allein hätte ihm schon zu denken geben sollen. Ich habe ihr nie getraut, nie. Gut, man kennt sie nur vom guten Tag und guten Weg, aber man hat ja so seine Lebenserfahrung, zum Glück, die hat man. Und dass ihm das zu Herzen ging, letztendlich, das war doch klar, für mich war das klar. Habe ich letzten Monat noch zu meiner Schwester gesagt. Wenn das man nicht irgendwann zum ganz großen Zusammenbruch kommt. Und? Tja, nach außen hin immer alles ganz ordentlich und bemüht, sehr bemüht, aber man lässt sich ja nichts vormachen, jedenfalls nicht für alle Zeit …«
    Die Schwester kommt aus dem Zimmer, Kittel knielang, weiße Gesundheitsschuhe, keine Birkenstock. Vier Plastikbecher auf dem Tablett.
    »Wenn Sie wollen, können Sie jetzt zu ihm. Bitte nicht so lange.«
    Das mittlere Bett ist frei, im ersten ein hagerer Vollbart, schläft, atmet unhörbar mit offenem Mund, sieht wie tot aus. Das letzte Bett am Fenster, zwei Rollhalter mit Tropfinfusionen. Siele mit Kopfverband, öffnet langsam die Augen, wendet den Kopf, lächelt.
    »Kopfschmerzen?«
    Er macht eine Bewegung mit der Hand.
    »Ist zu ertragen. Mit der Zeit wird alles heil, nur …«
    Pause. Draußen ruft eine Frauenstimme nach Gabi.
    »Den Blumen geht es noch gut.«
    »Hab ich auch nicht anders erwartet«, er dreht den Kopf, verzieht das Gesicht, lächelt gleich wieder, undeutlich. »Und was sagen Ihre Kollegen, mit denen haben Sie doch bestimmt schon gesprochen?«
    »Nein, heute noch nicht. Ich weiß eigentlich überhaupt nichts.«
    Er nickt schwach, wendet den Blick. Nach dem Ablauf fragen? Besser nicht.
    »Wenn es Ihnen wieder besser geht, würde ich gerne wieder mal eine Flasche mit Ihnen trinken. Oder zwei. Gibt bestimmt einiges zu erzählen.«
    Sein Gesicht bleibt ernst, fester Blick, kein Lidschlag. Er umfasst die Linke, hat kalte Hände.
    »Ich freue mich wirklich sehr, dass Sie gekommen sind.« Keine Reaktion in seinem Gesicht auf das Nicken, tiefe Atemzüge. Schweigen.
    Vom Vollbart aus dem ersten Bett ein dumpfer, langer Furz. Sieles Pupillen wandern in den linken Augenwinkel, kommen zurück, sein Gesicht bleibt unverändert. Die Schwester kommt, bleibt in der offenen Tür stehen, kein Wort. Die Gardinen bauschen sich.
    »Oh, nur keinen Zug.« Sie schmettert die Tür ins Schloss, marschiert zum Fenster, schließt es mit Wucht. Der Vollbart schreckt hoch, keine Orientierung. »Noch eine Minute?« Sie macht ein gönnerhaftes Bulldoggengesicht, weht hinaus. Ja, ja, gleich, natürlich.
    Siele drückt noch mal die Hand.
    »Ich denke, in ein paar Tagen bin ich wieder draußen.«
    »Nur keine Eile. Ruhen Sie sich eine Weile mal richtig aus. Bis zum Weintrinken können Sie sich ja ein wenig mit dieser entschärften Variante begnügen.« Er wirft einen Blick auf den roten Traubensaft, bedankt sich.
    »Ich melde mich wieder.«
    »Vielleicht kommt mein Bruder mal vorbei, aber Sie kennen sich ja schon.«
    »Alles Gute.« Kurzer Gruß.
    Die beiden alten Weiber in der Besucherecke unterhalten sich über die gesunde Konsistenz und Farbe von Scheiße.
    15 Uhr 40
    Thomas schließt die Tür, im Spiegelfenster sind zwei Paar Unterschenkel zu sehen. Jeans und braune Cordhose. Räuspern, schweres Atmen. Vortmann vom Rauschgift hustet, hält seine Nummerntafel vor den Mund. Hinter der Tür sind dumpf Schritte zu hören, Vortmann hustet. Wie beim Zahnarzt im Wartezimmer. Die Tür schwingt sacht auf, die beiden Unterschenkel verschwinden aus dem Spiegel. Thomas gibt kurze Anweisungen, umstellen, andere Nummer, drei für fünf. Die Tür schließt sich, im Spiegel jetzt drei Knie. Warten. Thomas kommt wieder, das war’s. Anna und ein Durchläufer nehmen Nr. 4
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