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Leichensache

Leichensache

Titel: Leichensache
Autoren: Norbert Horst
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Was jetzt noch?«
    »Wir packen die Sachen ein, noch kurz die Befragungen und ab. Schnake kommt um zwölf.«
    Ein Stift vom Plastikklappkasten fehlt, er hält trotzdem beim Hochheben.
    »Du kommst mit?«
    Nagel dreht sich vom Fenster weg, der Blick ist nicht in diesem Raum. Er braucht ein paar Sekunden, kratzt sich die Stirn.
    »Können wir vorher noch einen Kaffee trinken, irgendwo?« Können wir. Die Digitalanzeige von der Funkuhr auf dem Regal zeigt 10 Uhr 23. Heike schnappt sich den anderen Griff vom Kasten. Er pendelt beim Gehen hin und her, wird beim Gleichschritt ruhiger. Der Schreibblock liegt oben, darauf der abgeschnittene Rest vom gebastelten Seil.
     
    Die Kreissäge brummt dumpf, keine Drehung. Georg flucht, Schnake seufzt, spielt mit dem Memocord, sieht auf die Uhr. Georg schraubt das Gehäuse noch mal auseinander, schüttelt den Kopf, legt die Teile zur Seite. Hilfloser Blick zu Schnake, er nimmt die Handsäge. Mit der Linken drückt er Marcs Gesichtshaut weiter nach unten, sägt. Feine Späne fallen links und rechts vom Kopf wie Schnee auf den Edelstahltisch. Die Stirnhaut liegt über den Augen, das Kinn ist zu sehen.
     
    Na, Marc, kannste nichts mehr sehen?
    Ich sehe genug. Wahrscheinlich mehr als du.
     
    Die Messerklinge gleitet durch das Hirn, das Grau der Schale fingert in den Windungen in das Rosa hinein.
    Schön rosa, nicht? Warum so angestrengt? Suchst du was?
    Ein kleiner Hinweis wäre nicht schlecht. Vielleicht ein Blutgerinsel im emotionalen Zentrum. Oder besser ein Blut-Spermagerinsel. Was würde es dir helfen?
    Ein Geständnis hätte mir geholfen. Das hättest du vorher noch schreiben können.
    Mit Geständnis kann es jeder.
     
    Georg nimmt ein Stück Hirngewebe und lässt es in ein Reagenzglas gleiten.
     
    Hast du dich eigentlich schon mal gefragt, warum du den ganzen Tag damit verbringst, welche wie mich zu fassen?
    Komm, mach mir hier nicht den Sigmund. Wer liegt schließlich auf der Couch?
    Couch ist gut. Kannst dir das Stück von eben ja extrahiert in die Birne spritzen lassen, vielleicht kommt dir dann die Erleuchtung. Bei Ratten klappt das auch.
    Ekelhaft. Dann hätte ich ja was von dir in mir. Du bist wirklich ein Clown …
     
    Der Assistent macht den Bauchschnitt. Unter der Haut mindestens zwei Zentimeter Fettgewebe. Donnerwetter, sieht man von außen gar nicht. Das muss ich jetzt aber nicht haben.
    Heike sitzt bei offener Tür auf dem Beifahrersitz, liest die Briefe, blickt nicht hoch. Die Fahrertür ist noch abgeschlossen. Sie öffnet, liest weiter. Langsam sinken die Hände auf die Oberschenkel, der Hinterkopf drückt in den Schaumstoff der Kopfstütze. Schweigen.
    »Müde?«
    »Ne. Eher durcheinander.«
    Ein Eichhörnchen kommt aus den Eiben, ruckartige Bewegungen, sichert alle paar Meter. Zwei Sprünge in den Komposthaufen für alte Kränze.
    »Als ich letzte Woche die Tatortfotos sah, kam mir schon mal so was wie Giftspritze in den Sinn. Passiert dir das nie?«
    »Teilweise.«
    »Teilweise?«
    »Selten, aber manchmal, zum Beispiel wenn ich eine Kindsleiche mit Dammriss vor mir liegen habe, könnte ein Teil von mir töten.«
    »Ein Teil.«
    »Ja, aber damit komme ich just genau zu dem anderen Teil. Wenn also das Töten selber nicht das Problem ist, sondern lediglich die Legitimation, wozu dann die ganze Aufregung?« Zwischen ihren Augenbrauen entsteht eine Falte. »Dieser andere Teil ist ganz kalt daran interessiert, wie manche Gehirne es schaffen, diesen ganzen evolutionären und zivilisatorischen Ballast hinter sich zu lassen.«
    »Und?«
    »Ach, wir haben da oben hundertfünfzig Milliarden Zellen, von denen sich wahrscheinlich die meisten frei miteinander verbinden können. Also, versuch erst gar nicht, irgendwas zu verstehen. Das Schachbrett mit den Weizenkörnern ist nichts dagegen.« Sie lacht wie ungewollt. »Seit der Vertreibung aus dem Paradies ist nichts so allgegenwärtig wie die Unvollkommenheit. Ich denke, das wird noch eine Weile so bleiben.«
    Heike schaltet das Radio ein. Das ist doch … Das ist doch Counting out Time von The Lamb. Wahnsinn.
    Erogenous zones I love you
    without you, what would a poor boy do?
    Found a girl I wanted to date
    Thougt I’d better get it straight …
    Was ist denn das für ein Sender? WDR II.
    Sachen gibt es …

DANK
     
    Ich danke Regina Mahl-Schoofs, Thomas Nagel, Heidi Höpner, Inge Müncher, Erhard Gertler, Gisela Kuhlmann, Gitta Wittschier und Jürgen Rogall von der Bünder Schreibwerkstatt für ihre Anregungen und ihre
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