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Leichendieb

Leichendieb

Titel: Leichendieb
Autoren: Patrícia Melo
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Päckchen, die man aus dem Fernsehen von Reportagen über die Sicherstellung von Drogen kennt. Eine kompakte weiße Masse, in dicke Plastikfolie eingeschweißt und mit Klebeband umwickelt. Ich bohrte ein kleines Loch in die Verpackung und rieb mir probehalber etwas Pulver aufs Zahnfleisch. Zwar war ich kein Fachmann für diese Dinge, aber auch kein Laie. Meine Zunge wurde taub. Und mein Rachen ebenfalls.
    Ich überlegte eine Weile und dachte an die Polizeiwache, an der ich auf dem Weg nach Corumbá vorbeikommen würde. Bei der Vorstellung von einem Riesenhaufen Geld dauerte es keine Minute, bis ich meine Entscheidung getroffen hatte.
    Ich weiß nicht, wer das gesagt hat, aber es stimmt absolut, der Mensch ist nicht lange ehrlich, wenn er alleine ist.
    Aus demselben Grund nahm ich dem Piloten auch die Armbanduhr ab und verschwand.
4
    Ein Jahr zuvor war ich Geschäftsführer für Telefonmarketing bei einem Callcenter in São Paulo gewesen und verantwortlich für den Verkauf von Fitnessgeräten, die man zusammenklappenund unters Bett legen kann und die man dann nie wieder benutzt. Ich hatte schon Schlimmeres verkauft, Kreditkarten, Wasserfilter und Gürtel zum Schlankwerden. Ich lebte an meiner Grenze, vollgepumpt mit Kaffee, rannte wie ein aufgeschrecktes Kaninchen durch die Flure des Callcenters, schrieb Berichte und koordinierte über Funk die Verkaufsteams, stets mit dem Gefühl, meiner Arbeit hinterherzuhinken.
    Zu meinen Aufgaben gehörte es, die neuen Mitarbeiterinnen in Powerpoint, Word, Excel und Outlook zu schulen, eine schwierige und langwierige Übung, die stets meine Migräneanfälle auslöste. Eine junge, unerfahrene Angestellte war gerade von mir eingewiesen worden, als ich bei der Beaufsichtigung ihrer ersten Gespräche am Telefon gleich am Morgen ihres ersten Einsatztages feststellte, dass sie Schwierigkeiten beim Aussprechen bestimmter Wörter hatte. Und das nach der beinharten Schulung. Was haben Sie da in Ihrem Mund?, fragte ich.
    Sie zeigte mir das Piercing, das sie sich tags zuvor in die Zungenspitze hatte stechen lassen.
    Sie grinste verlegen, als ob sie etwas angestellt hatte. Das gab mir den Rest. Als ob man so arbeiten könnte, zischelnd, Wörter Menschen entgegenspuckend, die nicht mit einem reden wollen, die sofort den Hörer auflegen, wenn sie merken, dass man ihnen etwas andrehen will. Wollen Sie etwas verkaufen? Wiederhören, sagen sie, kein Interesse. Ich will nichts kaufen. Und knallen den Hörer auf. Und sie, meine Angestellte, mit einem Zungenpiercing.
    Wie wollen Sie so mit unseren Kunden sprechen?, fragte ich.
    Sie grinste betreten und legte den Kopf in den Nacken.
    Ich erinnere mich nur noch an den Hass, der in mir hochstieg, und dann an die Ohrfeige, die ich ihr versetzte.
    Alle fanden, dass ich ein angespannter Typ sei, aber einer, der sich unter Kontrolle hätte. Ich dachte das auch.
    Man versteht nie, wie ein verantwortungsbewusster, fleißiger Bürger eine Waffe ziehen und bei einem Streit im Straßenverkehr einen Autofahrer erschießen kann. Dabei ist es eigentlich ganz simpel. Es passiert auf die gleiche Weise, wie ich meine Angestellte ohrfeigte. Die Waffe liegt da, im Handschuhfach. Auf einmal versperrt so ein Typ einem auf der Kreuzung den Weg, man springt aus dem Wagen und verpasst ihm einen Schuss in die Stirn. So einfach ist das.
    Unverzüglich brachte ich das Mädchen in mein Büro, sie erschrocken, ich noch erschrockener. Hier, trinken Sie Wasser, sagte ich, setzen Sie sich, nehmen Sie das Tuch hier. Ich bat sie um Verzeihung, auf jede erdenkliche Weise. Aber ich konnte mir selbst nicht verzeihen und noch viel weniger verstehen, wie ich mich dem Mädchen gegenüber so hatte verhalten können. Sie saß nur still da, den Blick zu Boden gerichtet. Wie ein geprügelter Hund. Sie besaß nur diesen immer gleichen abgetragenen schwarzen Hosenanzug, seit dem ersten Tag der Schulung kam sie damit in die Firma. Ein Mädchen, sauber und abgewetzt. Blass. Sah aus wie eine Wasserflasche. Leer. Man hat es satt, Leute wie sie zu sehen, so gewöhnlich. Stehen mit ihren ordinären Taschen an der Bushaltestelle, drücken Fahrstuhlknöpfe, verkaufen Eintrittskarten im Kino. An diesem Tag bemühte sie sich, nicht vor mir loszuheulen. Darf ich auf Toilette?, fragte sie. Wir beide dort, einander vis-à-vis, ich wusste nicht, was ich machen sollte. Entschuldigung, sagte ich. Entschuldigen Sie bitte vielmals. Ich bot ihr meine Toilette an, Geschäftsführer haben dieses Privileg, aber sie
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