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Leichenblässe

Titel: Leichenblässe
Autoren: Simon Beckett
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seine Kollegen zu verstörend gewesen. Mary hatte die Trauerfeier würdevoll und ohne Tränen an der Seite
     eines pummeligen Mannes mittleren Alters überstanden. Es hatte eine Weile gedauert, ehe mir klar geworden war, dass der Mann
     in dem teuren Anzug ihr Sohn war. Er wirkte leicht gereizt und ungeduldig, so als hätte er wichtigere Dinge zu tun, und hatte
     einen schlaffen Händedruck, wie ich merkte, als ich ihm hinterher vorgestellt wurde.
    «Sie arbeiten in der Versicherungsbranche, nicht wahr?», fragte ich.
    «Eigentlich bin ich Versicherungsagent.» Mir war der Unterschied nicht ganz klar, aber es schien mir eine Nachfrage nicht
     wert zu sein. Ich unternahm einen neuen Versuch, mit ihm ins Gespräch zu kommen.
    «Wie lange bleiben Sie in der Stadt?»
    Er schaute auf seine Uhr und runzelte die Stirn, als wäre |411| er bereits zu spät dran. «Ich fliege heute Nachmittag zurück nach New York. Ich musste ein paar Meetings verschieben. Diese
     Sache kam wirklich ziemlich ungelegen.»
    Ich erinnerte mich daran, dass er trotz allem Toms und Marys Sohn war, und verkniff mir eine Bemerkung. Als ich weiterging,
     schaute er schon wieder auf seine Uhr.
    Sowohl Gardner als auch Jacobsen hatten an der Feier teilgenommen. Jacobsen war bereits wieder im Dienst, der Verband war
     unter ihrem Sakko nicht zu sehen. Gardner dagegen war noch krankgeschrieben. Da er so lange im Würgegriff gehalten worden
     war, hatte er eine transitorische ischämische Attacke erlitten, einen Mini-Schlaganfall. Er hatte eine leichte Störung des
     Sprechvermögens und eine halbseitige Lähmung davongetragen, beides war aber nicht von Dauer. Als ich ihn sah, schien er keine
     Nachwirkungen mehr zu haben. Nur die Furchen in seinem Gesicht waren tiefer geworden.
    «Mir geht’s gut», sagte er etwas steif, nachdem ich mich nach seinem Befinden erkundigt hatte. «Es gibt keinen Grund dafür,
     dass ich noch nicht wieder arbeiten darf. Verfluchte Ärzte.»
    Jacobsen sah so tadellos und unnahbar aus wie immer. Wenn sie ihren linken Arm nicht ein wenig geschont hätte, wäre niemand
     auf die Idee gekommen, dass sie angeschossen worden war.
    «Ich habe gehört, dass sie eine Auszeichnung erhalten soll», sagte ich zu Gardner, während sie Mary kondolierte.
    «Das wird gerade geprüft.»
    «Wenn es nach mir ginge, hätte sie sie verdient.»
    Er taute ein wenig auf. «Wenn es nach mir ginge, auch.»
    Als ich Jacobsen betrachtete, die ernst mit Mary sprach, fiel mir wieder auf, wie attraktiv sie war. Gardner räusperte sich.
    |412| «Diane hat eine schwere Zeit hinter sich. Ihre Beziehung ist letztes Jahr in die Brüche gegangen.»
    Es war das erste Mal, dass ich etwas Privates über sie erfuhr. Ich war überrascht, dass er mir diese Information anvertraute.
    «War er auch ein TB I-Agent ?»
    Gardner wischte etwas vom Revers seines zerknitterten Jacketts.
    «Nein. Sie war Anwältin.»
    Bevor sie gingen, verabschiedete sich Jacobsen von mir. Ihr Handgriff war kräftig, die Haut trocken und warm. Ihre grauen
     Augen schienen mich ein wenig freundlicher anzusehen als sonst, aber vielleicht bildete ich mir das nur ein. Dann ging sie
     elegant und athletisch neben dem zerknautschten Gardner zurück zu ihrem Wagen. Es war das letzte Mal, dass ich sie gesehen
     habe.
    Die Trauerfeier war einfach gehalten und bewegend. Statt Kirchenlieder zu singen, wurde nur am Anfang und am Ende jeweils
     eins von Toms liebsten Jazzstücken gespielt:
My Funny
Valentine
in der Version von Chet Baker und Dave Brubecks
Take Five.
Ich hatte lächeln müssen, als ich die Musik gehört hatte. Dazwischen hatten Freunde und Kollegen Reden gehalten, einmal wurde
     die feierliche Stimmung jedoch von einem schreienden Baby durchbrochen. Thomas Paul Avery hatte sich trotz aller Bemühungen
     seiner Mutter nur schwer beruhigen lassen.
    Niemand hatte sich daran gestört.
    Der Kleine war kurz nach Sams Eintreffen im Krankenhaus vollkommen gesund geboren worden und hatte sofort seine Verärgerung
     über die Welt herausgebrüllt. Am Anfang hatte Sams Blutdruck den Ärzten Sorgen bereitet, nach der Geburt hatte er sich jedoch
     mit bemerkenswerter Geschwindigkeit |413| wieder normalisiert. Nach zwei Tagen war sie nach Hause zurückgekehrt, noch immer blass und mit tiefliegenden Augen, wie ich
     bei meinem Besuch gesehen hatte, aber ohne sichtbare Nachwirkungen ihrer schrecklichen Erlebnisse.
    «Es kommt mir jetzt wie ein schlechter Traum vor», sagte sie, nachdem Thomas, den sie gerade
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