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Leichenblässe

Titel: Leichenblässe
Autoren: Simon Beckett
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kaum zu verstehen. «York hatte keine Fotos aus seinem Haus mitgenommen. Seine |402| Eltern, seine ganze Vergangenheit. Er hätte sie nicht einfach dagelassen   …»
    «Sprechen Sie jetzt nicht.»
    Mit Erleichterung sah ich die blutgefüllte Furche in ihrem Trapezmuskel, der zwischen Hals und Schulter verläuft. Die Kugel
     hatte die Oberseite des Muskels aufgerissen, ihn aber nicht ernsthaft beschädigt. Ein paar Zentimeter tiefer oder weiter rechts,
     und es wäre wesentlich schlimmer ausgegangen.
    Doch sie verlor unaufhörlich Blut. Ich rollte ihre Bluse zusammen und wollte sie gerade auf die Wunde drücken, als ein weiterer
     Agent mit einem Erste-Hilfe-Koffer heranstürmte.
    «Zur Seite», verlangte er von mir.
    Ich trat zurück, um ihm Platz zu machen. Er riss eine sterile Mullbinde auf und presste sie so stark auf die Wunde, dass Jacobsen
     aufstöhnte. Dann begann er, den Verband fachmännisch festzukleben. Da er offensichtlich wusste, was er tat, ging ich hinüber
     zu Gardner. Er war noch immer bewusstlos, was kein gutes Zeichen war.
    «Wie geht es ihm?», fragte ich die Beamtin, die neben ihm kniete.
    «Schwer zu sagen», entgegnete sie. «Die Sanitäter sind unterwegs, aber wir hatten nicht damit gerechnet, welche zu benötigen.
     Was zum Teufel ist hier eigentlich passiert?»
    Mir fehlte die Energie, um zu antworten. Ich wandte mich zu Kyle um, der ausgestreckt auf dem Rücken lag. Seine Brust und
     sein Bauch waren mit Blut getränkt, und seine Augen starrten reglos an die Decke.
    «Machen Sie sich keine Mühe, der ist tot», sagte die Beamtin, als ich mich bückte, um seinen Puls zu fühlen.
    Aber das war er nicht, jedenfalls noch nicht ganz. Unter der Haut pochte es kaum wahrnehmbar. Ich ließ meine |403| Finger auf seinem Hals liegen und schaute ihm in die geöffneten Augen, während sein Herz die letzten unregelmäßigen Schläge
     machte. Sie wurden schwächer und die Abstände immer größer, bis sie schließlich ganz aufhörten.
    Wenn etwas in seinen Augen zu sehen gewesen war, dann war es mir entgangen.
    «Sie sind verletzt.»
    Die Beamtin, die neben Gardner kniete, schaute auf meine Hand. Ich sah, dass sie mit Blut verschmiert war. Wahrscheinlich
     hatte ich mich an der Spiegelscherbe geschnitten, obwohl ich mich nicht daran erinnern konnte. Der Schnitt hatte meine Handinnenfläche
     quer über die bereits existierende Messernarbe wie einen Mund aufgeschlitzt, aus dessen Lippen das Blut quoll.
    Bis zu diesem Augenblick hatte ich nichts gespürt, doch jetzt begann die Hand heftig zu brennen und zu pochen.
    Ich ballte sie zu einer Faust. «Ich werde es überleben.»

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    |404| EPILOG
    In London regnete es. Nach dem strahlenden Sonnenschein und den grünen Bergen Tennessees wirkte England grau und trübe. Die U-Bahn war wegen des abendlichen Berufsverkehrs vollgestopft mit erschöpften und missmutigen Pendlern. Ich blätterte durch die Zeitung,
     die ich mir am Flughafen gekauft hatte, und kam mir irgendwie fehl am Platz vor, als ich über Ereignisse las, die während
     meiner Abwesenheit stattgefunden hatten. Wenn man nach einer langen Reise nach Hause kommt, hat man immer das Gefühl, wie
     bei einer Zeitreise ein paar Wochen in die Zukunft verpflanzt worden zu sein.
    Das Leben war ohne mich weitergegangen.
    Der Taxifahrer war ein höflicher Sikh, der sich damit begnügte, schweigend zu fahren. Ich starrte hinaus auf die frühabendlichen
     Straßen und fühlte mich nach dem langen Flug schmuddelig und müde. Als wir in meine Straße einbogen, kam sie mir irgendwie
     fremd vor. Es dauerte einen Moment, ehe mir der Grund dafür klar wurde. Die Äste der Linden, die bei meiner Abreise noch fast
     kahl gewesen waren, bogen sich nun unter einer üppigen Blätterpracht.
    Der Regen war zu einem Nieseln geworden und überzog den Gehweg mit einem dunklen Glanz, als ich ausstieg und den Fahrer bezahlte.
     Ich nahm mein Gepäck und trug es zur Haustür, stellte es ab und dehnte meine Hand. Vor ein paar |405| Tagen hatte ich den Verband abgenommen, aber sie war immer noch etwas empfindlich.
    Als ich die Tür aufschloss, hallte das Geräusch des Schlüssels in der kleinen Diele wider. Obwohl ich vor der Abreise eine
     Postlagerung beantragt hatte, lag ein einsamer Haufen aus Flugblättern und Reklamezetteln auf den schwarzweißen Fliesen. Ich
     schob ihn mit einem Fuß beiseite, trug das Gepäck hinein und schloss die Tür hinter mir.
    Die Wohnung hatte sich, abgesehen von der Staubansammlung
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