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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena
Autoren: Zeit zu sterben
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In dieser Zeit gab es keine Gesprächsrunden oder Therapiesitzungen. Im Allgemeinen aßen die Mitarbeiter zusammen mit den Klientinnen in häuslicher Atmosphäre am Esszimmertisch. Als ich sagte, ich ginge in der Mittagspause aus dem Haus, stellte mir niemand Fragen. Unsere Köchin Minna hatte letzte Woche lauthals verkündet, ich machte bestimmt eine Abmagerungskur. Tatsächlich saß meine Hose seit einiger Zeit lockerer, mochten sich meine Kolleginnen also darüber freuen, dass ihre Theorie richtig war, auch wenn ich es nicht zugab.

    Sirpa wollte ziemlich viel mitgebracht haben, also nahm ich außer den Packtaschen meinen Rucksack mit. Er lag in meinem Zimmer, seit ich darin zwei Paar Gummistiefel für den Pilzaus-flug des Frauenhauses von zu Hause mitgebracht hatte. Ich besaß nämlich drei Paar, denn meine Brüder hatten die Angewohnheit, mir immer wieder neue zu schenken. Als Kind hatte ich kurz hintereinander zwei Paar kaputtgemacht, womit sie mich immer noch aufzogen. Ich hatte ihnen nie erzählt, dass ich in der Schule wegen meiner schwarzen Gummistiefel Marke Kontio gehänselt worden war. Alle anderen trugen blaue oder gelbe Stiefel Marke Hai. Obwohl ich mit einer Tracht Prügel rechnen musste, hatte ich mich zweimal der verhassten Stiefel entledigt. Beim dritten Paar gab ich dann auf. Damit endete die Rebellion einer Dreizehnjährigen, mein erster und letzter Versuch zu pubertieren.
    Mit dem Fahrrad brauchte ich nach Soukka nur eine Viertelstunde. Zweihundert Meter vor dem Haus, in dem die Väätäinens wohnten, hielt ich an und rief die Busfirma an, bei der Ari arbeitete. Der Schichtmeister gab mir die Auskunft, Ari sei bis halb drei im Fahrdienst. Trotz des Kontrollanrufs hatte ich Angst, als ich das Treppenhaus betrat. Die Wände waren mit Graffiti verunziert, die einem Sauberkeitsfanatiker wie Ari zuwider sein mussten. Die Väätäinens wohnten in einer Dreizimmerwoh-nung im ersten Stock.
    Ich hatte schon früher gelegentlich Sachen meiner Klientinnen holen müssen. Nur allzu oft verrieten schon die Wohnungen, dass ein Familienmitglied die anderen verprügelte: Die Tü-
    ren hatten Dellen, die Spiegel waren zerschlagen, die Gardinen zerfetzt, die Sofas blutbefleckt. Die Wohnung der Väätäinens ließ allerdings nicht erkennen, dass die Mutter der Familie in diesen vier Wänden um ihr Leben fürchten musste. Die Schuhe standen sauber aufgereiht im Flur, das Wachstuch lag akkurat auf dem Esstisch in der Küche, die fünf Stühle waren ordentlich an.
    den Tisch geschoben. Auch die geblümte Tagesdecke im Eltern-schlafzimmer war glatt gezogen, und die Nippes im Wohnzimmer standen in Reih und Glied. Die Bilderrahmen mit den Fotos der Kinder und dem Hochzeitsbild der Väätäinens hatten auch keine Schrammen. Auf dem Bücherregal standen Aris Schätze, Autogrammfotos von der Langläuferin Marjo Matikainen und den Skispringern Matti Nykänen und Toni Nieminen. Die Rahmen glänzten wie frisch poliert.
    Nur im Kinderzimmer lagen ein paar Spielzeugautos auf dem Boden, und am Spice-Girls-Poster war eine Ecke eingerissen.
    Im Kleiderschrank der Kinder fand ich sorgfältig gebügelte Kleidungsstücke. Der Wäscheschrank hätte sogar vor den Augen meiner Mutter Gnade gefunden.
    Ich holte Kleidung für die Kinder aus dem Schrank, dazu für Matti alle Schlafanzüge, die ich finden konnte. Ich bemühte mich, alles so sauber zu hinterlassen, wie ich es vorgefunden hatte, Ari sollte nicht merken, dass ich da gewesen war. Sirpas Illustrierte fand sich tatsächlich in ihrem Versteck im Küchenschrank, Marco Bjurström lächelte fröhlich vom Titelblatt. So einen warmherzigen, netten Mann hätte Sirpa verdient. Aber Ari würde Sirpa eher umbringen, als sie einem anderen zu überlassen. Pauli und die anderen Mitglieder der «Männergruppe gegen Gewalt» hatten mit Ari geredet und versucht, ihn zu ändern.
    Ich war mir sicher, er gehörte hinter Gitter, aber womit würde Sirpa dafür bezahlen müssen? Mit einer schweren Körperverletzung? Mit dem Leben? Die Zeit, die Ari absitzen müsste, wäre lächerlich kurz, danach würde er umso mehr auf Rache sinnen.
    In dem Moment hörte ich im Treppenhaus schwere Schritte, die im ersten Stock Halt machten. Ari war doch wohl nicht wie gestern mitten am Tag von der Arbeit weggegangen? Die Angst schnürte mir die Kehle zu, instinktiv rannte ich ins Badezimmer, das konnte man wenigstens abschließen. Ich hörte ein Klirren, waren es Schlüssel? Gleich würde er aufschließen und meinen
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