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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena
Autoren: Zeit zu sterben
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nach der Hofübernahme fällige Auszahlung gestundet. Tarmo hatte mit seinem Anteil eine Autowerkstatt gegründet, die sich nicht rentierte. Reima verspielte alles, was er in der Tasche hatte, daher hatte ich ihm öfter Geld geben müssen, damit seine Familie den Wohnungskredit abzahlen konnte. Meine Brüder führten jedes Mal ihre Kinder ins Feld: Als Single hätte ich ja keine Ahnung, wie teuer Kinderkleidung und Spielzeug wären.
    In der Schule würde man gehänselt, wenn man nicht den richtigen Ranzen hatte.
    Ich lebte mehr als vierhundert Kilometer von ihnen entfernt, sie waren in Nordkarelien geblieben, ich war so verwegen gewesen, nach Helsinki zu ziehen. Trotzdem hatte ich nicht so viel Distanz von meiner Familie gewonnen, wie ich wollte. Manchmal wünschte ich mir, zwischen uns läge ein Ozean.
    «Der arme Tarmo is ganz deprimiert, der weint bloß noch, na klar, der vermisst die Mädchen», jammerte meine Mutter weiter.
    «Wann kommst du denn mal, die Kartoffeln müssen aus der Erde, und die Preiselbeeren verfaulen im Wald, ich kann doch nich so gut pflücken, meine Beine machen nich mehr mit.»
    «Ich kann jetzt nicht, zu viel Arbeit. Und Ende des Monats ist die nächste Rate vom Studiendarlehen fällig, da geht mein ganzes Geld drauf», log ich. Tatsächlich hatte ich das Darlehen schon vor einem Jahr zurückgezahlt.
    «Ja aber, was wird denn aus Tarmo, und wie soll ich die Preiselbeeren …»
    «Ich muss jetzt los, ich will noch in die Stadt», bog ich weiter die Wahrheit zurecht. «Ich darf den Bus nicht verpassen, der fährt hier so selten. Nein, nicht mit einem Mann, ich bin bei einer aus dem Chor eingeladen. Tschüs!»
    Sulo strich mir um die Beine, ich schleppte mich zum Kühlschrank und trank ein Glas Buttermilch. Auf etwas anderes hatte ich keinen Appetit. Später musste ich auch noch einkaufen, zum Glück war der Laden bis neun Uhr geöffnet. Ich warf einen Blick auf das Fernsehprogramm: nichts Besonderes heute Abend.
    Ob Ari Väätäinen schon nach Hause gegangen war? Hatte er die schadhafte Stelle am Kabel bemerkt? Ich hätte einen Zettel mit einer Warnung hinterlassen sollen, statt noch mehr daran zu schaben.
    Als ich die Stelle im Frauenhaus angetreten hatte, war ich darauf vorbereitet gewesen, der dunkelsten Seite des Lebens zu begegnen. Schon auf dem Sozialamt hatte ich alle denkbaren Arten von Elend erlebt. Ich dachte, ich wäre abgehärtet und trotzdem noch weich genug für meinen neuen Job. Aber ich konnte mich nicht an die blauen Flecken und ausgeschlagenen Zähne gewöhnen, an die verängstigten Kinder, die seit Wochen nicht mehr richtig geschlafen hatten, an die Frauen, die gelernt hatten, sich selbst für so schlecht zu halten, dass man sie verprügeln durfte. Irja Ahola war nicht die erste meiner Klientinnen, die von ihrem Ehemann umgebracht worden war. Die Beerdigung sollte in zehn Tagen sein, ich hatte Pauli gesagt, ich könne als Vertreterin des Frauenhauses hingehen.
    Vor ein paar Jahren hatte eine meiner Klientinnen gewartet, bis ihr Mann, ein Alkoholiker, der sie jahrelang misshandelt hatte, eingeschlafen war, dann hatte sie ihn erstochen. Der erwachsene Sohn war am nächsten Tag in die Wohnung gekommen und hatte die Polizei alarmiert. Die Mutter hatte schlafend neben der Leiche gelegen, vor der Polizei hatte sie ausgesagt, sie hätte im letzten Monat alles in allem nur zehn Stunden geschlafen. An der Leiche hatte man siebenundfünfzig Stich- und Schnittwunden gefunden, und Kriminalhauptmeister Lähde, der die Ermittlungen leitete, hatte im Interview mit einer Boule-vardzeitung gesagt, es gebe nichts Schrecklicheres als die Wut einer Frau. Ich hätte Lähde darüber aufklären können, dass die ständige Angst vor Schmerzen und vor dem Tod noch schlimmer ist. Viele Klientinnen hofften, ihr Mann würde sie endlich umbringen. Sie hielten nur aus Sorge um die Kinder durch; was sollte aus ihnen werden, wenn die Mutter im Grab lag und der Vater hinter Gittern saß?
    Ich zwang mich, zum Einkaufen zu fahren: Schokolade, meinen Lieblingsfruchtsaft und eins von diesen herrlichen Klatsch-blättern, die nur über glückliche Menschen berichteten. Sulo versprach ich Krabben, seine Leibspeise. Die Nachbarskinder spielten auf dem Hof, im Haus gingen hier und da Lichter an.
    Fast alle Wohnungen hatten mehr als einen Bewohner, ganz ge-wöhnliche Familien in einer friedlichen Vorortsiedlung. Statis-tisch gesehen lebte in mindestens fünf dieser Wohnungen eine Frau, die irgendwann einmal von
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