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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena
Autoren: Zeit zu sterben
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ich nicht geglaubt hatte, lange genug zu leben.
    Ich fuhr mit der Hand durch meine kurzen dunklen Haare.
    Die rotblonde Perücke lag ganz unten im Schrank, ich hatte sie für die nächste Chemotherapie aufgehoben. Es war mir schwer gefallen, im Krankenhaus um eine Kostenerstattung für eine Pe-rücke zu bitten, noch schwerer war der Gang ins Perückenge-schäft. Die Verkäuferin aber war einer der nettesten Menschen, die mir während meiner Erkrankung begegnet waren. Sie hatte mich weder furchtsam noch mitleidig angesehen, sondern ge-scherzt und sich wirklich Mühe gegeben, eine möglichst schöne Frisur für mich zu finden. Über das eindrucksvolle Ergebnis hatte sie sich noch mehr gefreut als ich. Vermutlich hatten einige meiner Kolleginnen und verschiedene Sängerinnen im Chor gemerkt, dass ich eine Perücke trug, und gedacht, ich wollte mich nicht mehr über meine eigenen hässlichen Haare ärgern.
    Ich wog die Gelprothese eine Weile in der Hand, bevor ich sie in die eingenähte Tasche in meinem BH gleiten ließ, deren An-fertigung ich von der Beschäftigungstherapeutin in der Strahlenklinik gelernt hatte. Außer in der Arztpraxis würde ich mich nie mehr vor anderen Menschen ausziehen können, hatte ich gedacht. Ich hatte mich immer für meinen Körper geschämt, und nun war er endgültig verstümmelt und hässlich. Sulo und ich passten wirklich zusammen: eine einäugige Katze und eine einbrüstige Frau, zwei Märchenfiguren aus dem Hexenhaus.
    Ich kämmte die neuen Haare zu einer flotten Bürstenfrisur, die mein Gesicht schmaler und länger machte, zog einen frischen Schlafanzug an und schaltete den Fernseher ein, um mich irgendwie zu beschäftigen. Es war Samstagabend, fast elf Uhr, auf den meisten Kanälen gab es drittklassige Filme oder Mord-serien. Den Sender mit den Rockvideos probierte ich gar nicht erst, da kam höchstens einmal in der Woche irgendein alter Hit, den ich mir anhören konnte. Ich wollte schon auf meine Videos mit den Tauno-Palo-Filmen zurückgreifen, als plötzlich eine voll tönende Männerstimme das Zimmer erfüllte.
    Im vierten Programm des schwedischen Fernsehens sang ein Mann in weißer Kutte die Tenorarie aus Bachs Johannes-Passion: «Bei der Welt ist gar kein Rat, und im Herzen stehen die Schmerzen meiner Missetat.» Ich erstarrte und lauschte auf die Musik, die wie für diesen Moment geschrieben zu sein schien.
    Allmählich begann ich die Altpartien mitzusummen, und beim Schlusschoral sang ich aus vollem Hals mit. Erst bei der Strophe
    «als denn vom Tod erwecke mich» fing ich an zu weinen.
    Mir standen immer noch Tränen in den Augen, als ich das Lamm in den Ofen schob und anfing, die Soße zuzubereiten.
    Ich wusch einige Kartoffeln, wickelte sie in Folie und legte sie neben den Lammbraten in den Ofen. Dabei dachte ich an all die Menschen, in deren Leben ich mich im vergangenen Winter eingemischt hatte. Hatte ich nur Böses getan? Allein würde ich das Maß meiner Schuld nicht ermessen können, das konnte ich nur zusammen mit anderen tun. Ich beschloss, den Therapeuten aufzusuchen, dessen Adresse mir die Ärztin zusammen mit den Hinweisen für die Nachbehandlung gegeben hatte. Morgen wollte ich meine Familie anrufen, frohe Ostern wünschen und erzählen, wovon ich genas.
    Am Himmel stand der Mond. Er war nicht ganz rund, trotzdem hätte ihn niemand als unvollkommen bezeichnet. Es war immer derselbe Mond, obwohl ihm immer wieder ein unterschiedlich großer Teil fehlte und er sich von Zeit zu Zeit völlig unsichtbar machte.
    Ich legte ein weißes Tischtuch auf, stellte mein bestes Geschirr, die aus dem Frost geretteten Osterglocken und einen Teller mit dünnen Wachskerzen auf den Tisch. Es duftete verlo-ckend nach Lamm und Knoblauch. Bald würden die Glocken läuten, bald würde die Prozession um meine heimatliche Kirche ziehen und das orthodoxe Ostertroparion singen. Ich brauchte nicht dort zu sein, nicht jetzt. Es genügte, in Gedanken die Worte zu hören. Es würden andere Osterfeste kommen, bei denen ich sie mitsingen konnte.
    Ich vertauschte den Schlafanzug mit einer apfelsinenfarbe-nen Bluse und einem dunkelvioletten Rock, den ich mir in der Zeit gekauft hatte, als ich krankgeschrieben war. Ich schminkte mich, so gut ich konnte, steckte die Ohrringe mit den Hämmerchen an, stöpselte das Telefon ein und wählte Kalles Nummer.
    Er antwortete mit tiefer, verschlafener Stimme, die aber fröhlich wurde, als er meinen Gruß hörte.
    «Hier ist Säde. Frohe Ostern. Ich habe Lamm
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