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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena
Autoren: Zeit zu sterben
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nicht mehr zurück. Und nicht alle Männer sind wie er.»
    «Woher soll man das wissen?» Unter ihrer geschminkten Maske war Tiinas Gesicht voller Verzweiflung, und ich wusste keine Antwort auf ihre Frage.
    «Tiina, unser Zug fährt gleich!» Henri kam zurück, Tiina ging mit ihm und wischte sich die Augen.
    «Halt die Ohren steif!», rief ich ihr nach. Ich wusste seit langem, wie viel Zeit es brauchte, bis Gewaltopfer sich von ihren schrecklichen Erfahrungen erholten. Zum Glück war Tiina so klug gewesen, eine Therapie anzufangen.
    Ich war seit Ostern im vorigen Jahr nicht mehr bei meinen Eltern gewesen. Damals war ich noch die alte, brave Säde. Diesmal hatte ich mir vorgenommen, mir keine höhnischen Bemer-kungen gefallen zu lassen. Im Zug fing ich an, meinen Beschluss zu überdenken. Ich wollte, dass man mich in guter Erinnerung behielt.
    Mein Bruder Tarmo holte mich in Joensuu am Bahnhof ab. Er hatte einen neuen, leuchtend roten Wagen, die einzige Auto-marke, die ich mit Sicherheit erkannte: Mercedes. Offensichtlich hatte er seine Finanzen in Ordnung gebracht. Im Autoradio sang eine mir unbekannte Tangoprinzessin, während Tarmo mir die verzwickten Einzelheiten seiner Scheidung erläuterte. Ich hörte zu, wie ich es immer getan hatte, wortlos, und dachte dabei über meine eigenen Angelegenheiten nach. Er brauste mit hundertdreißig Sachen über die schmale Straße und prahlte, er hätte einen Radarwarner im Auto.
    «Hier hat sowieso keiner Zeit, Tempo zu messen, die Zellen überwachen se jetzt auch bloß noch mit der Kamera.»
    Bei meinen Eltern hatten sich alle Brüder mit Frauen und Kindern versammelt, nur Reimas Frau Tupu fehlte. Meine Mutter tischte Hefegebäck und Piroggen auf.
    «Du bis aber dünn geworden. Und deine Frisur is komisch, so kurz. Ne neue Brille haste auch gekauft.»
    «Kriegste ordentlich Entschädigung für die Schusswunde?», wollte Aimo wissen.
    «Warum war dein Bild nich in der Zeitung?» Mein Vater kam aus dem Nebenzimmer, wo er geraucht hatte, und zog die schlotternde Hose hoch.
    «Weil ich nich wollte.»
    «Warum denn nich. Da hätten wir endlich mal mit dir ange-ben können. Die hätten dir bestimmt was für ‘n Interview bezahlt», sagte Reima.
    «War ich nich dran intressiert.» Ich biss ein großes Stück von der Kartoffelpirogge ab, um nicht reden zu müssen. In meinem Elternhaus hatte ich immer Hunger, obwohl es mir vorkam, als zählten mir meine Schwägerinnen die Bissen vom Mund ab.
    Ich behauptete, ich wäre müde von der Reise und von den Schmerzmitteln, damit ich früh schlafen gehen konnte. Mein altes Zimmer gehörte inzwischen den Kindern meines Bruders, an den Wänden hingen Poster von irgendwelchen Monstern und mir unbekannten Popstars, es roch nicht mehr nach Schmierseife, sondern nach einem Waschmittel mit Blütenduft.
    Ein tragbares Fernsehgerät und ein Computer hatten die Bü-
    cherregale über dem Schreibtisch verdrängt. Nur die Landschaft war noch dieselbe wie vor zwanzig Jahren, obwohl die Bäume gewachsen waren und die Satellitenschüssel auf dem Dach einen seltsamen runden Schatten auf den Hof warf. Der alte Bergwerksturm strahlte sein geheimnisvolles grünliches Licht aus.
    Um am Samstag nicht in die Sauna gehen zu müssen, erklär-te ich, der Arzt hätte mir verboten, den Zeh nass zu machen. Vor einigen Jahren hatte Tarmos zweite Frau mich in der Sauna gefragt: «Wie ist das nur möglich, dass dein Busen schon so hängt, obwohl er so klein ist und du nie gestillt hast?» Tarja hatte die Schultern durchgedrückt, sodass ihre runden, festen Brüste vor-standen, und ich hatte nicht gewusst, was ich sagen sollte. Ich hatte mich vorgebeugt, um mein Gesicht zu verbergen, war dankbar gewesen für die Dunkelheit in der Sauna und für den Schweiß, der mir über das Gesicht lief und sich mit den Tränen vermengte.
    In der letzten Nacht kehrten auch andere Erinnerungen zu-rück. Das kleine Mansardenzimmer war meine Zuflucht gewesen. Mein Vater hatte Strom in die ehemalige Dachkammer gelegt und die Wände mit Steinwolle isoliert, als mein Busen zu wachsen begann und es nicht mehr als schicklich galt, dass ich mit Aimo im selben Zimmer schlief. Die Jungen hatten mich um mein eigenes Zimmer beneidet, um das einzige Privileg, das ich meinem Geschlecht verdankte, und hatten mir deshalb jeden nur denkbaren Streich gespielt, von Fröschen und Mäusen, die sie mir ins Bett legten, bis zum Zerreißen meiner Bücher. Das Tagebuchführen hatte ich nach zwei Wochen aufgegeben,
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