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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena
Autoren: Zeit zu sterben
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die Köchin, würde Marjo und Matti zur Schule fahren müssen, denn ich hatte keinen Führerschein und Pauli keine Zeit. Inzwischen konnte ich das Frühstücksgeschirr in die Spülmaschine stellen. Ich wür-de für den vierjährigen Toni ein Video von den Mumins laufen lassen, und dann würde ich mit Sirpa ein ernstes Wort sprechen.
    Mit dem Prügeln musste Schluss sein.
    Es entsprach nicht den Grundsätzen des Schutzhafens, Familien auseinander zu reißen. Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden – diese Worte aus der Trauformel standen in der Stiftungsurkunde. Meistens wollten unsere Klientinnen wieder nach Hause, sobald ihre Wunden verheilt waren. Sie hatten vor Veränderungen noch mehr Angst als vor ihrem Ehemann. Manche hatten sogar Angst, von ihrem Mann umgebracht zu werden, wenn sie auszogen.
    Für die Ehemänner war es eine Erleichterung, dass unser Haus von einem Mann geleitet wurde. Pauli war klein, untersetzt, um die fünfzig; er strahlte väterliche Autorität aus. Seiner Meinung nach verdiente jeder Sünder die Chance, zu sühnen und ein neues Leben zu beginnen. Seine religiös gefärbte Wortwahl irritierte einzelne Klientinnen, aber die meisten empfanden sie als tröstend. Wir hatten andere Wertvorstellungen als das zweite Frauenhaus in Espoo: Dort wurden die Frauen ermutigt, sich von ihren prügelnden Männern zu trennen.
    Toni Väätäinen ließ sich von der Auseinandersetzung zwischen Mumin und Schnüferl gefangen nehmen. Ich führte Sirpa aus dem Fernsehraum in das Arbeitszimmer, das ich mit meiner Kollegin Maisa teilte. In Maisas Hälfte waren die Wände mit bunten Patchworkbildern und Kinderzeichnungen geschmückt, meine Hälfte war dezenter. Auf dem Fußboden lag ein Flickenteppich, den meine Mutter gewebt hatte; das naturweiße Spit-zendeckchen hatte ich beim Fernsehen gehäkelt. Leuchtende Farben machten mich unruhig, und ich hätte mir nicht vorstellen können, wie Maisa in einem blutroten Kleid oder in einer Bluse in aggressivem Orange zur Arbeit zu kommen.
    Sirpa setzte sich in den Sessel und strich sorgfältig den Rock-saum glatt. Ari hasste Unordnung und verknautschte Kleider.
    Wenn sie mit einem Fleck auf dem Mantel vom Einkaufen zu-rückkam, bildete Ari sich ein, sie hätte sich von einem anderen Mann betatschen lassen. Sirpa war eine hübsche Frau, ihr Gesicht war symmetrisch und fein geschnitten, obwohl Ari ihr einmal den Kiefer ausgerenkt hatte. Sie hielt den schmalen Körper stets leicht gebeugt, wie um sich vor den Schlägen zu schützen, die ihr schon dreimal die Rippen gebrochen hatten.
    Sirpa hatte blonde schulterlange Locken gehabt, bestens geeignet, um schmerzhaft daran zu reißen. Ihre Haare waren immer glänzend und gepflegt, sie wusch sie fast jeden Tag. Jetzt waren sie auf der einen Kopfhälfte millimeterkurz geschnitten, am Scheitel glänzten kahle Stellen, und über der Stirn standen ein paar Zentimeter lange, ungleichmäßige Fransen in die Hö-
    he. Zwar hatte sie diesmal kein blaues Auge und keine geschwollene Lippe, aber die ruinierten Haare wirkten genauso demütigend.
    «Soll ich dir den Friseur bestellen?», fragte ich als Erstes. «Die Arja vom Salon Aaltonen kann herkommen und deine Haare einigermaßen herrichten, so brauchst du nicht unter die Leute zu gehen.»
    «Das wäre mir peinlich …Vielleicht könnte mir eine von euch mit dem Schneiden helfen, den Rest mache ich dann selbst. Ich habe auch gar kein Geld. Ari zählt das Essensgeld neuerdings genau ab.»
    «Hast du denn kein eigenes Konto?»
    Ich wusste, dass Sirpa nicht arbeiten ging, obwohl sie für den Vierjährigen kein Erziehungsgeld mehr bekam. Ari war der Meinung, mit seinem Busfahrergehalt könne er die Familie allein ernähren, und außerdem müsse die Mutter zu Hause sein, weil Matti gerade erst mit der Schule angefangen hatte.
    «Uns gehört alles gemeinsam», sagte Sirpa ausdruckslos.
    «Bestellen wir den Friseur! Das ist mein Namenstagsge-schenk für dich. Du hast doch heute Namenstag, herzlichen Glückwunsch!» Ohne mich um ihre Einwände zu kümmern, griff ich zum Telefon. Arja versprach, um halb drei zu kommen.
    Sie war schon öfter im Schutzhafen gewesen, um kahle Stellen zu überkämmen und Frisuren zu zaubern, die blau geschlagene Augen verdeckten.
    «Um halb drei … Schafft sie das? Ari kommt um drei von der Arbeit. Er holt uns bestimmt ab.»
    «Darüber reden wir gleich noch. Was ist gestern eigentlich passiert?»

    Sirpa verzog das Gesicht wie ein Kind, dem
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