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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena
Autoren: Zeit zu sterben
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Einmal hatte einer sogar geschossen, aber zum Glück nur die Wand getroffen.
    Mein Gegenüber war im Knast gewesen! Daher die blasse Gesichtsfarbe und die Unwissenheit über aktuelle Filme. Ich beschloss, mir keinen vierten Cidre mehr zu bestellen. Am besten ließ ich auch den dritten stehen. Ich stand abrupt auf.
    «Oje, ich hab gar nicht gemerkt, dass es schon nach sechs ist.
    Ich darf meinen Bus nicht verpassen», stammelte ich.
    «Sie haben es aber auf einmal eilig», wunderte sich der Mann.
    Dann warf er einen Blick auf seinen Arm. Er begriff, was los war.
    «Viel Spaß im Kino!» Ich band nicht einmal den Gürtel meines Popelinemantels zu, sondern rannte mit wehenden Schö-
    ßen auf die Straße, die jetzt nicht mehr im Sonnenschein lag.
    An der Ecke blieb ich stehen, knöpfte den Mantel zu und merkte, dass ich unbedingt zur Toilette musste, bevor ich in den Bus stieg. Es blieb mir nichts anderes übrig, als auf dem Weg zum Busbahnhof einen Abstecher ins Kaufhaus Stockmann zu machen. Dort spülte ich mir auch gleich den Mund aus und kramte vergeblich in der Handtasche nach meiner Puderdose. Die roten Flecken in meinem Gesicht waren schlimmer als je zuvor.
    Als ich frierend an der Bushaltestelle stand, kam mir in den Sinn, dass der Mann, den ich gerade getroffen hatte, womöglich im Gefängnis gewesen war, weil er seine Frau umgebracht hatte. Es war dumm von mir gewesen, mich auf ein Gespräch einzulassen. Garantiert hatte er mich für leichte Beute gehalten. Es war mir ja schon von weitem anzusehen, dass ich nichts von Männern wusste. Oder höchstens von solchen, die ihre Frauen verprügelten. Sicher, ich hatte einen Vater und Brüder, und im Chor waren mehr als ein Dutzend ganz gewöhnliche Männer, die nur gute Angewohnheiten hatten. Mit zwei Ausnahmen waren sie alle verheiratet, und die beiden Junggesellen waren zwanzig Jahre älter als ich.
    Die Übelkeit setzte ein, als der Bus vom Westring auf die Finnoontie abbog. Mit Müh und Not hielt ich bis zu meiner Haltestelle durch. Dort musste ich mich einen Augenblick hinsetzen und tief durchatmen. Ich hätte diesen säuerlich-süßen Cidre nicht trinken sollen.
    Auf dem Weg von der Haltestelle nach Hause duftete es nach Äpfeln. Die alte Fichtenhecke, die ich mir so gern vom Schlaf-zimmerfenster aus ansah, schwankte im Wind. Die Treppe in den ersten Stock des Reihenhauses kam mir heute länger vor als sonst.
    Es war immer schön, nach Hause zu kommen, denn hinter der Tür wartete Sulo. Ich nahm ihn auf den Arm, und er leckte mit seiner nach Hering riechenden Zunge über meine Backe.
    Aus seinem gesunden Auge starrte er mich fordernd an. Sulos Mutter war die Stallkatze meines Onkels. Er konnte ein Auge nicht öffnen. Die Katzenmutter und die anderen Jungen aus dem Wurf hatten den Krüppel verstoßen, und mein Onkel war drauf und dran gewesen, ihn zu ertränken. Ich war zufällig zu Besuch in meiner Heimatstadt, und das Mitleid hatte über die Vernunft gesiegt. Ich hatte den kleinen Kater nach Helsinki mitgenommen und es in den letzten acht Jahren kein einziges Mal bereut. Sulo war ein vorbildlicher Hausgenosse, weich, warm und still.
    «Ich muss mich erst ausruhen, dann gehen wir nach drau-
    ßen», sagte ich zu dem Kater, der sich nur unwillig absetzen ließ.
    Ich zog den Mantel aus, ging ins Schlafzimmer und warf mich aufs Bett. Sulo rollte sich neben mir zu einem grauen flauschi-gen Ball ein. Die Übelkeit kam für einen Moment zurück, gleichzeitig sah ich Irja Aholas zerschlagenes Gesicht vor mir.
    Ich hätte sie retten müssen!
    Als das Telefon klingelte, schrak ich auf. Ich schaffte es gerade noch bis ins Wohnzimmer, bevor sich der Anrufbeantworter einschaltete.
    «Hallo, hier ist Anneli», hörte ich die besorgte Stimme meiner Kollegin. «Ich hab es schon am Handy versucht, aber da komm ich nicht durch.»
    «Oje, Entschuldigung.» Ich hatte mein Handy ausgeschaltet, als ich zur Polizei ging, und nachher vergessen, es wieder einzu-schalten. Das sah mir gar nicht ähnlich. «Was ist los?»
    «Ari Väätäinen ist ans Tor gekommen und hat so lange den Finger auf den Klingelknopf gehalten, bis Sirpa nervös wurde.
    Sie hat mich gebeten, ihn hereinzulassen. Er wollte seine Familie nach Hause holen.»
    «War er betrunken?»
    «Den Eindruck hatte ich nicht, aber er wirkte ziemlich aggressiv. Er sagte, wir sollten uns nicht in seine Familienangelegen-heiten einmischen.»
    «Sirpa ist doch wohl nicht mitgegangen? Gut. Wenn Ari nochmal auftaucht, rufst du die
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