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Lehtolainen, Leena

Titel: Lehtolainen, Leena
Autoren: Zeit zu sterben
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suchten oft Trost im Alkohol, fiel mir ein. Also ging ich ins Nachbarviertel, nach Punavuori, und tat etwas, was ich in meinem fünfunddreißigjährigen Leben noch nie getan hatte: Ich ging allein in ein Lokal und bestellte mir ein Glas Cidre. Es kam mir vor, als wäre das eine der wichtigsten Entscheidungen meines Lebens, als wäre es Zeit, die Schicksalsfäden zu kappen und mein Leben selbst in die Hand zu nehmen.
    Das Lokal war ziemlich leer, außer mir und dem einflügligen Ferkel saßen nur ein paar Schachspieler da und ein älterer Mann, der sich hinter seiner Zeitung verschanzt hatte. Im Radio liefen finnische Schlager, und ich brauchte mich um nichts weiter zu kümmern als um das Getränk, das vor mir stand. Ich hät-te gern etwas zu lesen gehabt, um nicht immer an Irja Ahola und Sirpa Väätäinen denken zu müssen. Als der Mann die Zeitung hinlegte und ging, nahm ich sie mir. Der knappe, sachliche Bericht über Irjas Ermordung nahm eine Spalte ein. Jetzt tat es mir Leid, dass ich Kallio nicht um ein Foto der Leiche gebeten hatte.

    Vielleicht würde der Anblick Sirpa Väätäinen zur Vernunft bringen.
    Das Horoskop prophezeite die Begegnung mit einem Menschen, der mein ganzes Leben auf den Kopf stellt. Das glaubte ich gern. Dieser Mensch war ich selbst.
    Allmählich stieg mir der Cidre zu Kopf, das Ferkel sah weniger traurig aus. Vielleicht war alles gar nicht so schlimm, niemand würde mehr sterben, es würde alles wieder gut. Die Sonne schickte ein paar Strahlen in die schmale Straße vor der Gaststätte und zauberte für einen kleinen Moment Maistim-mung in den Septemberabend. Ich holte mir an der Theke den dritten Cidre und traute mich, mit dem Kellner einige Worte über das Wetter zu wechseln.
    Plötzlich stand ein großer dunkelhaariger Mann neben mir.
    Er maß ungefähr eins neunzig und wog mindestens hundert Kilo. Ich verzog mich schnell an meinen Tisch. Ich hörte, dass der Mann ein dunkles Bier wollte, er unterhielt sich mit dem Wirt über Stammwürze und Süße und entschied sich schließlich für eine Marke, von der ich noch nie gehört hatte. Ich schaute den Leuten auf der Straße hinterher, die zielstrebig irgendwohin gingen: von der Arbeit nach Hause, ins Kino, zum Aerobic.
    Sie wirkten echt und lebendig.
    «Kann ich die Zeitung haben?» Der große Mann hatte sich an den Nachbartisch gesetzt, mit dem Gesicht zu mir. Seine Stimme war tief, ein rauer Bass. Zwischen dem schwarzen Bart und den dichten Augenbrauen war nur die scharf gezeichnete Nase zu erkennen. Die schwarzen Haare kräuselten sich an den Schläfen, die großen Augen waren tiefbraun. Seine Haut war nicht gebräunt, wie man so kurz nach dem Sommer erwartet hätte, sondern gelblich weiß wie ein Kartoffelkeim.
    «Ja», sagte ich in einem Ton, der ihn davon abhalten sollte weiterzureden.
    «Danke.» Der Mann ließ ein Lächeln aufflackern, das die Lachfältchen um seine Augen voll zur Geltung brachte. Ich spürte, wie ich rot wurde, und sah schnell nach draußen. Der Kerl sah einfach zu gut aus.
    Obwohl ich versuchte, mich auf die Passanten zu konzentrieren, entging mir nicht, dass der Mann immer wieder von der Zeitung aufblickte und mich ansah. Warum nur? Ich war nicht der Typ, der Männerblicke auf sich zieht. Ich war durch und durch mittelmäßig. Größe eins sechzig, Gewicht vierundsechzig Kilo. Birnenförmiger Körper, schmale, knochige Schultern, die Arme schlank, aber mit schlaffen Muskeln. Mein Busen war nicht der Rede wert: Körbchengröße A hatte immer gereicht.
    Mit gutem Willen konnte man oberhalb der Hüften so etwas wie eine Taille ausmachen. Mein Hintern und meine Oberschenkel waren breit, Waden und Knöchel immerhin so weit präsentabel, dass ich es wagte, bei feierlichen Anlässen einen Rock zu tragen. Meine dünnen Haare konnte man euphemistisch als dun-kelblond bezeichnen, und für meine Frisur hatte mein Bruder Tarmo den Namen «Sozialarbeiterinnenschnitt» erfunden. Meine kleinen hellblauen Augen versteckten sich hinter runden, dünn eingefassten Brillengläsern. Die Augenbrauen waren hell und nichts sagend. Mein Gesicht rötete und schuppte sich ständig, als hätte ich einen Sonnenbrand. Mein Mund war klein mit schmalen Lippen. Die Kosmetikerin, die am Verwöhntag für das Personal ins Frauenhaus gekommen war, hatte gemeint, meine Oberlippe sei schön geschwungen – wahrscheinlich, weil es sonst nichts Positives über mein Aussehen zu sagen gab. Im Allgemeinen benutzte ich kein Make-up. Manchmal versuchte
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