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Lehrerzimmer

Lehrerzimmer

Titel: Lehrerzimmer
Autoren: Markus Orth
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Ausstoßen des sich selbst wiederholenden Jammers, die dritte Säule. Und der oberste Jammersatz: Wie schlecht die Schüler seien! Sie wüssten nicht, wer de Gaulle sei, nicht, was Vichy bedeute, ja, nicht mal, was am 1.9.39 geschehen sei, sie schrieben Hitler mit zwei t, sie wüssten nicht, wie lange der Zweite Weltkrieg gedauert habe, ja, sie wüssten nicht einmal, dass es überhaupt einen Ersten Weltkrieg gegeben habe, man müsse froh sein, wenn sie Krieg überhaupt mit ie schrieben!
    Und dann die Korrekturen! Da sitze man Wochenende für
    Wochenende, Englisch Leistungskurs, ein Schüler habe einen Ausdruck hingekritzelt, von dem man genau wisse, dass kein Englischsprachiger ihn je verwenden würde, das sage einem deutlich jeder Funke Sprachgefühl, aber nein, nie könne man sich rein auf das Sprachgefühl verlassen, immer müsse man alle Möglichkeiten ausschließen, und es reiche nicht, im Langenscheidt nachzuschlagen, nein, im Langenscheidt stehe nichts. Vielleicht im Oxford? Nein. Im Collins? Nein. Also müsse man in die Bibliothek nach Stuttgart fahren und im zehnbändigen Harper nachschlagen, da, tatsächlich, da stehe der Ausdruck, den der Schüler verwendet habe, zwar veraltet, aber immerhin, er sei irgendwann einmal von irgendeinem Englisch sprechenden Menschen im
    14. Jahrhundert
    aufgeschrieben worden, und daher könne man dem Schüler keinen Fehler ankreiden, lediglich unterschlängeln dürfe man den Ausdruck. Ich solle mir also gut überlegen, sagte der Direktor nun, während er auf die Uhr sah und sich erhob, ob ich in den endlosen Chor des Lehrerjammers einstimmen
    wolle. Er habe nun keine Zeit mehr, mich über die vierte Säule der Schule aufzuklären, den Schein, die Tatsache also, dass ein jeder, der hier lebe und arbeite, so tue, als ob, auch er tue nun gerade so, als ob er keine Zeit mehr hätte, in Wahrheit habe er alle Zeit der Welt, auch er sage nun, er warte noch auf einen Anruf, in Wahrheit wolle er nur noch ein Stündchen in seinem Sessel dösen, alle, sagte er, täten hier so, als ob, täten so, als seien sie gute Lehrer, als seien sie interessierte Schüler.
    Doch wenn alle immer so täten, als ob, bestehe eigentlich kein Unterschied mehr zwischen dem Als-ob und der
    Wirklichkeit, aber dies sei ein heikles philosophisches Thema, das er ein andermal mit mir erörtern wolle, und wenn ich weiter keine Fragen hätte, solle ich nun so tun, als hätte ich ihn verstanden und pünktlich zum Arbeitsbeginn am 15.
    September zur feierlichen Verbeamtung erscheinen, hier, bei ihm, im Büro, mit den übrigen vier Kandidaten. Dann gab er mir die Hand, setzte sich und schenkte mir keine Beachtung mehr. Ich ging an den Sekretärinnen vorbei, die mir freundlich zunickten, ein wenig mitleidig fast, schien mir, denn die Tür war die ganze Zeit offen gestanden und sie hatten alles mit anhören müssen. Ich trat auf den Flur und nahm zum ersten Mal diesen Geruch wahr, ein Gemisch aus Holz und Linoleum, kaltem Beton, Wandfarbe, Pflanzenausdünstungen, ein klein wenig Schweiß. Ich ging langsam den Gang entlang, die
    Treppe hinab, am Getränkeautomaten vorbei, die Glastür hinaus, dort die Raucherecke, dicht bei den silbergrauen Müllcontainern. Vorm Restaurant Frühlingstau standen Tische und Sonnenschirme, unter denen sich der Staub und Dreck der Straße stauten. Der Kellner, weiß geschürzt, ergraut, ein Stoppelbart, schiefe Zähne, hoch aufgeschossen, stellte einen Lammbraten auf den Tisch, an dem ich gerade vorbeiging und sagte zu den Gästen: Das Schweigen der Lämmer.

    3

    Ich war lange vor Beginn der ersten Gesamtlehrerkonferenz, der sogenannten Schuljahreseröffnungskonferenz, in
    Göppingen, ich hatte einen frühen Zug genommen und stand rauchend im Bahnhofsbereich. Ich hatte den Kragen meiner Jacke hochgeschlagen und sah mich ab und zu um. In der Unterführung traf ich wieder auf den Akkordeonspieler. Ich wunderte mich, dass er schon so früh unterwegs war, und da ich noch ein wenig Zeit hatte, sprach ich ihn an. Er hatte schlechte Zähne und konnte nicht deutlich reden, außerdem war mein Kopf so voll von all den Dingen, die in den nächsten Stunden auf mich warteten, dass ich ihm nicht mit der nötigen Konzentration folgen konnte. Ich dachte an die erste
    Schulstunde heute in der 11b. Die letzten zwei Wochen hatte ich voll und ganz genutzt und mir die Raabits-Ordner und alle für die elfte Klasse gängigen Englischbücher und CDs sowohl des Klett- als auch des Hueber- und Cornelsenverlags kommen
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