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Lehrerzimmer

Lehrerzimmer

Titel: Lehrerzimmer
Autoren: Markus Orth
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wollten klare Fragen, wollten Brücken, Hilfen, sie wollten ja all das aus dem Schädel des Lehrers kratzen, was dieser in den Vorbereitungsstunden hineingekippt habe, sie wollten den Lehrerschädel quasi auslöffeln und das Vorbereitete, Gewisse, Sichere von der Tafel ablesen, um es aufsaugend abzuschreiben und in ihren Heften mit nach Hause zu nehmen. Er hustete eine Weile, beruhigte sich, und während er schwieg, beeilte ich mich, ihm zu versichern, dass ich selbstverständlich bereit sei, eine Klasse als Klassenlehrer zu übernehmen, ich hätte lediglich übersehen, an der betreffenden Stelle ein Kreuz zu machen, und ich bat ihn, mir noch eine Chance zu geben. Er wischte meine Worte mit einer
    Handbewegung weg und sagte, sicher, sicher, ich bekäme meine Chance, wenn ich darauf bestünde, er habe nur offen zu mir sprechen wollen. Der Direktor vermerkte, nachdem er sich geschnäuzt hatte, zwei Kreuze auf dem Personalbogen, zwei Klassen, sagte er, er werde mir gleich zwei Klassen geben, damit ich von Anfang an wisse, woher der Wind wehe, und ich sagte, selbstverständlich, zwei Klassen.

    2

    Er wolle mich nun, fuhr der Direktor fort, so, wie bei jedem Einstellungsgespräch, in die Geheimnisse des Schullebens einweihen, ohne eine Sache zu beschönigen, schonungslos sozusagen wolle er mir mitteilen, was mich erwarte. Man könne, sagte er, vier Säulen unterscheiden, auf welche das gesamte Schulsystem sich stütze: Die Säulen nenne er Angst, Jammer, Schein und Lüge. Die Lüge, sagte er gleich zu
    Beginn, das solle ich verinnerlichen, sei das Elixier der Schule.
    Jeder hier an der Schule lüge. Er, der Direktor, zuallererst.
    Nichts von dem, was er sage, müsse zwangsläufig der
    Wahrheit entsprechen, nie, sagte er, könne ich mir sicher sein, dass er das, was er verspreche, auch halte. Ein von ihm gegebenes Versprechen sei kein Versprechen im eigentlichen Sinne, oft genug seien Lehrer zu ihm ins Direktorat gekrochen und hätten zu ihm aufschauend gebettelt: Aber Sie haben es doch versprochen! Er aber, der Direktor, rücke dann in steter Regelmäßigkeit mit einem schon berüchtigt gewordenen
    Wortspiel dem armen, im Staub des Direktionszimmers
    liegenden Lehrer zu Leibe, indem er sich der Doppeldeutigkeit des Wortes versprechen bediene und so tue, als wisse er von nichts. Die Backen des Direktors blähten sich. Ob ich ihm folgen könne? fragte er. Ich nickte. Und ich könne nur überleben, fuhr der Direktor fort, wenn ich mich dem hier üblichen System der Lüge anschlösse. Gesetzt den Fall, ich hätte eines Morgens keine Lust, zum Unterricht zu erscheinen, sei aber körperlich durchaus dazu in der Lage, was ich dann täte? Ich würde selbstverständlich kommen, sagte ich. Gut so, sagte der Direktor, ich würde schnell lernen: die erste Lüge.
    Nein, sagte er, ich hätte anzurufen und zu sagen, ich fühlte mich nicht wohl. Er aber, der am anderen Ende der Leitung sitze, würde ganz genau wissen, dass ich nicht die Wahrheit sagte. Aber das sei kein Problem für ihn. Er sähe darin, dass ich nicht die Wahrheit sagte, andere Qualitäten. Er sähe den guten Willen, den ich an den Tag legte, den guten Willen, mich dem System zu beugen, meine Bereitschaft, das Spiel
    mitzuspielen. Wehe aber, sagte er nun, ich würde bei der Wahrheit bleiben. Die Wahrheit sei ein offener Affront, eine Revolution, ein Schlag in seines, des Direktors, Gesicht. Die härtesten Maßnahmen hätte er zu treffen im Falle einer Wahrheitskonfrontation. Ob ich rauchen würde? fragte er mich nun. Mit einem schnellen Blick überflog ich den Schreibtisch, konnte keinen Aschenbecher ausmachen und verneinte. Da schnüffelte der Direktor misstrauisch und sagte, aber er rieche Rauch. Das müsse daran liegen, sagte ich, dass im Zug nur noch ein Platz im Raucherabteil frei gewesen sei. Also Nichtraucher? fragte der Direktor. Ja, sagte ich. Das sei gut so, er könne keine Raucher brauchen, er hasse Raucher. Dennoch habe er eine Raucherecke einrichten müssen, in seiner Schule.
    Er habe sie sinnigerweise neben die Müllcontainer platziert, aber noch nie habe sich ein Raucherlehrer über diese Nähe zu den stinkenden Containern beschwert. Die ließen eben alles mit sich machen, die Lehrer. Ja, man sei sogar so weit gegangen, regelmäßige Folterungen einzuführen, um
    herauszufinden, was so ein Lehrer auszuhalten in der Lage sei.
    Diese Folterungen fänden hier, im ERG, mittwochs in der sechsten Stunde statt. Ein jeder sei verpflichtet, den Folterungen
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