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Lehrerzimmer

Lehrerzimmer

Titel: Lehrerzimmer
Autoren: Markus Orth
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beizuwohnen. Man bezeichne die Folterungen als Konferenzen. Nichts von dem, was er, der Direktor, während einer Konferenz sage, würde irgendeinen Sinn ergeben, die Lehrer aber seien trotzdem verpflichtet, so zu tun, als ergäbe es einen Sinn. Beispielsweise jene berühmten Diskussionen, die dort enden, wo sie begonnen haben. In der
    Direktorenausbildung lege man auf die Kunst der
    Kreisdiskussionsführung besonderen Wert. Er, der Direktor, habe lange an seiner Technik der Kreisdiskussionsführung gefeilt. Die wichtigste Regel dabei sei ziemlich simpel: Ende gleich Anfang. Am Ende der Diskussion stehe man genauso da wie am Anfang, nämlich ratlos. Und eigentlich müssten die Lehrer dann aufbegehren und sagen, was alle dächten: dass sich nichts geändert habe. Aber sie würden eher verrecken, die Lehrer, als sich zu melden, denn alle wollten nach Hause, allen ginge es nur darum, die Kreisdiskussion so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Und so recke einer von ihnen irgendwann beide Arme – ich müsse wissen, wer beide Arme recke, wolle nicht irgendeine gewöhnliche Belanglosigkeit von sich geben, nein, dazu bräuchte man nur eine einzige Hand zu heben, wer aber beide Arme recke, stelle einen Antrag zur Geschäftsordnung, meist gegen dreizehn Uhr dreißig, da, Achtung, zwei Arme, Herr Safft, Antrag zur
    Geschäftsordnung, ja? Herr Safft: Ob man über ein Beenden der Debatte abstimmen könne? Bei einem Antrag zur
    Geschäftsordnung müsse man mitten im Wort das, was man sage, abbrechen, mitten im Satz die Debatte beenden, um den Antrag anzuhören. Es bliebe keine Wahl, man müsse, sei einmal ein Antrag zur Geschäftsordnung eingereicht, diesem Antrag folgen, es sei denn, unmittelbar nach dem ersten Antrag zur Geschäftsordnung stelle ein Kollege einen weiteren Antrag zur Geschäftsordnung, um darüber abzustimmen, ob man den ersten Antrag zur Geschäftsordnung ablehnen solle, was wiederum einen neuen Antrag zur Geschäftsordnung nach sich ziehen könne und so fort. Aber die Lehrer seien meist gottfroh, dass einer von ihnen den sogenannten Abwürgeantrag gestellt habe, ja, seufze man erleichtert, das Ende der Kreisdiskussion sei in Sicht, man stimme gerne ab, Ergebnis: 57 zu 12, die Debatte sei beendet. Der Direktor verschnaufte eine Weile, stand auf und strich ein Staubkorn vom Blatt einer
    Grünpflanze, trat vor die Galerie der Porträts seiner Vorgänger, als Letztes in der Reihe war sein eigenes Konterfei zu sehen, vor dem er nun stehen blieb und sich, als stünde er vor einem Spiegel, die Haare aus der Stirn strich. Dann setzte er sich wieder und fuhr fort. Die Konferenzen seien nur eine von zahlreichen Lehrerqualen, die vom Oberschulamt in die Wege geleitet worden seien, eine andere seien die sogenannten Besuche, bei welchen Oberschulamtspolizisten dem Unterricht der etablierten Lehrer beiwohnten und immer genau das
    kritisierten, was sie sähen: Habe der Lehrer eine Gruppenarbeit in die Stunde eingeflochten, fehle der Einsatz der
    Lehrerpersönlichkeit; folge der Lehrer dagegen dem Prinzip des Frontalunterrichts, so sei die Stunde zu lehrerzentriert.
    Habe der Lehrer einen Text für die Stunde kopiert, so sei der Text schlecht ausgewählt; stünde der Text im Lehrbuch, so sei er falsch eingesetzt. Nehme man eine Folie, so sei es der falsche Zeitpunkt; verwende man ein Tafelbild, sage man, warum keine Folie? Es gebe kein Entrinnen, sagte der
    Direktor, sich den Qualen der Bewertung und der Willkür zu entziehen. Und aus diesen Qualen sei mit der Zeit eine Angst erwachsen, inzwischen der wichtigste Pfeiler des Systems, eine Angst, die nun über allem schwebe, sozusagen die Königin der Geißeln, die innere Kraft des gesamten Systems. Er meine nicht nur die Angst der Lehrer vorm Oberschulamt, vorm Direktor, vor den Schülern, vor den Eltern, er meine auch die Angst der Schüler vorm Direktor, vor den Eltern, vor den Lehrern und die Angst des Direktors vor den Eltern und vorm Oberschulamt sowie die Angst des Oberschulamts vor den Ministerialbeamten, die Angst der Ministerialbeamten vorm Kultusminister, die Angst des Kultusministers vorm
    Ministerpräsidenten und die Angst des Ministerpräsidenten vor den Wählern, vielmehr den möglichen Nichtwählern, also den Eltern, vertreten im Elternbeirat: Die Angst sei der Kitt, der alles zusammenfüge. Die Angst sei den Lehrern mit der Zeit zu einer zweiten Haut geworden, und so habe es eines Ventils bedurft, die Angst habe sich Luft verschafft im endlosen
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