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Lehrerkind

Lehrerkind

Titel: Lehrerkind
Autoren: Bastian Bielendorfer
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konservierten und in muffigen Pappkisten horteten. Mittendrin ich und mein Vater, der in tiefer Konzentration auf sein Hobby das mopsige Bündel zu seiner Rechten möglichst ruhigstellen wollte, wozu ein Rosinenbrötchen und ein Regina-Regenbogen-Puzzle nicht ausreichte. Ich jammerte meist wie ein debiles Vogeljunges, wenn ich mal wieder in diesen Siffschuppen geschleppt wurde, weil mein Vater ein paar Stunden nach seltenen Fehlpressungen von The Who suchen oder einfach nur ein wenig mit den anderen Sammlerzombies fachsimpeln wollte.
    Die kleine Gruppe von Sozialversagern war durch eine Vielzahl menschlicher Kuriositäten charakterisiert. Da gab es »Bike-Mike«, einen leicht verwirrt wirkenden Arbeitslosen, der seine Plattenkäufe durch den vielfachen Diebstahl von Fahrrädern finanzierte und der den schönen Sinnspruch prägte: »Vorher war es dein Bike, nun ist es bei Bike-Mike.«
    Ein Großteil der Anwesenden sah ein wenig wie Republikflüchtlinge aus, schludrig versiffte Jeansjacken, Cordhosen und Hawaii-Hemden, stilvoll ergänzt von einem Vokuhila und von Schnurrbärten, die sonst nur von emsländischen Polizisten mit Stolz getragen werden konnten. Zwischendrin ich, der zwergenhafte Basti, und sein Vater, der Bildungsbürger, der sich überraschend gut in dieses Puzzle der humanen Absonderlichkeiten einfügte.
    Vor jedem Besuch bei Easy Records stand ich mit meinem Vater vor der mannshohen Stahltür der verlassenen Milchfabrik, und immer, wenn er es für nötig hielt, den Grusel der Geschichte zu erneuern, wurde ich angehoben und musste mit meiner kleinen, zittrigen Kinderhand die Schelle drücken.
    »So, jetzt kommst du ins Kindergefängnis«, sagte mein Vater mit einer so beängstigenden Begeisterung, dass er mich wahrscheinlich wirklich abgegeben hätte, wenn jemals einer die Tür geöffnet hätte.
    Ein scheppriges Surren durchhallte die leeren Gemäuer der Fabrik, die Tür blieb jedoch verschlossen. Ich plärrte wie ein Wahnsinniger, dass ich jetzt nach Hause wollte.
    »Na ja, es kann ja niemand aufmachen, der kleine Markus ist ja auch angekettet, wie soll er da zur Tür kommen?«, fuhr mein Vater im gleichtönigen Duktus eines Musterbeamten fort, während sich mein Gesicht in einem Brei aus Rotz und Schnodder auflöste.
    Er hatte sein Ziel erreicht, ich fiel wieder in eine apathische Schockstarre und setzte mich für die nächsten Stunden schweigend in eine Ecke, während mein Vater mit spitzen Fingern und einem genussvollen Lächeln die Plattenkisten von Easy Records nach Kuriositäten durchwühlte.

Die Schultüte
    »Gib mir mal die Klebe, nein, nicht die, die da!«, murmelte meine Mutter in einem Zustand genervter Lustlosigkeit, die sonst nur eine Klasse voller lärmender Blagen in ihr wecken konnte.
    Ich griff drei Mal daneben, erst zur Schere, dann zum Geschenkpapier und dann erst zur Uhu-Tube. Manchmal glaube ich selbst, dass bei mir die Verbindung vom Ohr zum Hirn nicht ganz funktioniert.
    Meine Mutter pappte ein grinsendes Clownsgesicht aus Filz auf das Zeitungspapier, und durch die konische Form der Tüte schielte der Clown uns nun böse an.
    »So, fertig!« Das Ergebnis unserer Bastelkatastrophe wirkte wie eine Mischung aus einer halb abgebrannten Sankt-Martins-Laterne und einem Mitnehmkarton für asiatisches Schnellessen. Ich fing spontan, aber engagiert an zu heulen.
    Meine Schultüte bestand tatsächlich aus einer alten Sankt-Martins-Laterne, und die anderen Teile waren Schnipsel der »Westdeutschen Allgemeinen Zeitung« und ein paar verklebte Brocken Geschenkpapier, die, der sparsamen Trümmerfrauenmentalität meiner Mutter geschuldet, von Weihnachten übrig geblieben waren.
    Es war der Vorabend eines der Meilensteine meines jungen Lebens: Am nächsten Morgen sollte ich eingeschult werden und damit die feine Grenze vom Windelfüller zum selbstbestimmten Teilnehmer am gesellschaftlichen Alltag überschreiten. Ich war mir der Tragweite dieses Datums durchaus bewusst und wollte es auch angemessen zelebrieren. Schon seit einer Woche schlief ich schlecht, nachts wachte ich immer wieder ungeduldig auf, in Erwartung der vielen neuen Erfahrungen, die auf mich zukommen würden, sobald ich erst einmal ein vollwertiges Mitglied der Erwachsenenwelt wäre. Ich stellte mir vor, dass mich bald niemand mehr ins Kindergefängnis sperren könnte und mich niemand mehr begleiten würde, wenn ich auf die Toilette wollte. Das war im Kindergarten so gewesen. Jetzt kam die Schule … Wenn ich darüber nachdenke,
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