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Lehrerkind

Lehrerkind

Titel: Lehrerkind
Autoren: Bastian Bielendorfer
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ein nettes Kompliment«, erwiderte mein Vater und schaute dabei auf Julian, der es mit seinem knochigen Körper, der Hühnerbrust und dem Pflasterauge ohne meine Hilfe wohl nie zum Gottkönig gebracht hätte.
    »Sie verstehen wohl nicht, Ihr Sohn hat versucht meinen Julian zu vergraben, er hat gesagt, nur so könne Julian unsterblich werden«, empörte sich die Frau. Ihre schwarzen Augenbrauen wanderten wie zwei paarungswillige Raupen aufeinander zu. Mein Vater stutzte. Dann fiel ihm ein, dass wir ein paar Tage zuvor in der großen Tutanchamun-Ausstellung in Düsseldorf gewesen waren und wie begeistert ich von der ägyptischen Bestattungstradition der Mumifizierung gewesen war.
    »Rein historisch ist das korrekt«, witzelte er, doch die Mutter schien nicht sehr an den geschichtlichen Fakten interessiert.
    »Sind Sie bescheuert, mein Sohn wäre fast erstickt«, plärrte sie, während mein Vater schon wieder in seinen aufgeschlagenen »Stern« linste. Sie störte. Ich stand schuldbewusst neben der Szenerie, die ganze Aufregung war mir wohl zu viel, schließlich war ich erst fünf. Zum Glück hatte Klein Julian nicht erzählt, dass ich außerdem versucht hatte, ihn zum Vorkoster für meine selbst gebackenen Sandkuchen zu machen … 
    Überall, wo ich auftauchte, riss ich mit meinen guten Absichten eine Schneise der Verwüstung in die vorhandene Ordnung. Kein System war mir zu klein, um nicht mit Neugier bombardiert und durch Experimentierwut zerstört zu werden. Fakt ist, dass jeder Kontakt zwischen mir und anderen Kindern in ein Gemetzel ausartete. Klein Julian hat aus heutiger Sicht wahrscheinlich Glück gehabt, dass ich ihn nur lebendig vergraben wollte.
     
    Lehrerkind zu sein ist an sich schon nicht leicht, doch meine Erziehung ähnelte manchmal eher einem psychologischen Experiment als dem, was man gemeinhin als Kindheit bezeichnet. Ich hatte natürlich auch einen Gameboy, Kabelfernsehen und lustige Taschenbücher, ganz wie andere Kinder, aber zu diesen herkömmlichen Dingen gesellten sich noch die düsteren Geister aus der perfiden Vorstellungskraft meiner Eltern. Nur so, meinten sie zumindest, würden sie meiner unbändigen Zerstörungswut Herr werden.
    Der »kleine Markus« war so ein Geist, vielmehr war er ein Phantom, niemand, weder ich noch mein Vater, hatte ihn je gesehen, und trotzdem reichte allein die Erwähnung seines Namens, um mich für ein paar Stunden in Schockstarre zu versetzen. Der »kleine Markus« war der einzige Insasse des Kindergefängnisses Essen Kray, so erzählte es mir mein Vater jedenfalls in schöner Regelmäßigkeit, wenn wir samstags gemeinsame Ausflüge machten. Diese Ausflüge fanden statt, weil meine Mutter als Grundschullehrerin dauerhaft am Rande des Nervenzusammenbruchs campierte. Die lärmenden, kreischenden Blagen, deren Beaufsichtigung fünf Tage ihrer Woche in Anspruch nahm, demolierten ihr Nervenkostüm so sehr, dass sie an den Wochenenden froh war, wenn mein Vater mit mir auf Abenteuerspielplätze oder ins Spaßbad fuhr.
    Eigentlich hätte meine Mutter stutzig werden müssen, dass ich nach diesen Ausflügen nie mit Spielplatzsand besudelt war oder mit nach Chlor stinkenden Haaren nach Hause zurückkehrte, sondern bloß verstört in mein Zimmer wackelte und wie ein apathischer Zirkuselefant die Wand anstarrte. Mein Vater lud währenddessen Berge von Schallplatten aus, die er bei unserem Ausflug ins »Spaßbad« gekauft hatte und die er nun, als Lehrer und leidenschaftlicher Sammler, erst mal katalogisieren, markieren und einordnen musste.
    Der »kleine Markus« war in meinem Kopf zu einem buckligen, missgebildeten Jungen mutiert, der an einer langen Kette durch die leere Dunkelheit seiner Zelle schlurfte und nur ab und an ein paar Fischköpfe von seinen Bewachern zugeworfen bekam. Er hatte, der Aussage meines Vaters nach, mehrmals seine Mama geärgert und war deshalb in ein grausames Teenagerguantanamo gebracht worden, wo er jetzt tagein, tagaus von seiner Reue zerfressen wurde. Mir würde es genauso ergehen wie dem kleinen Markus, sofern ich die nächsten Stunden nicht still und folgsam neben ihm im Plattenladen verharren würde.
    Gegenüber der lange leer stehenden Milchfabrik, die mir mein Vater in seinen Geschichten vom kleinen Markus als Kindergefängnis verkaufte, befand sich »Easy Records«, ein Schallplattenladen, in dessen zigarillorauchdurchwehtem Ambiente alte Männer in speckigen Lederwesten die Erinnerungen an ihre glorreiche Jugend in Form von Tonträgern
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