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Lehrerkind

Lehrerkind

Titel: Lehrerkind
Autoren: Bastian Bielendorfer
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langsam nachzulassen.
    Dr. Bergmann sank mit seinem unbehaarten Kopf immer tiefer hinter dem blauen Sichtschutz hinab, der vor den Beinen meiner Mutter aufgespannt war.
    »Ja, dafür gab es damals nur eine Gnaden-Vier, eigentlich kannst du froh sein, dass ich dich nicht habe durchfallen lassen, sonst wäre das mit dem ganzen Medizin-Pipapo wohl nichts geworden«, erläuterte mein Vater seine damalige Großzügigkeit. In seiner Welt war eigentlich alles unter dem Begriff »Pipapo« zusammengefasst, was nicht direkt mit der höheren Literatur zusammenhing.
    »Hörst du mir eigentlich zu Tobias? Hallooo?«, rief mein Vater dem verschwitzten, roten Schädel des Oberarztes entgegen, der wie ein bratender Festtagsputer zwischen den Schenkeln meiner Mutter hing.
     
    Plötzlich durchbrach ein gellender Schrei das angespannte Schweigen. Ich hatte mich der ganzen Diskussion entzogen und war trotz der Empörung meiner Eltern über Herrn Bergmanns Interpretationsschwächen zur Welt gekommen. Ein vier Kilo schweres, hellblaues und blutverschmiertes Etwas lag jetzt in den haarigen Armen des Oberarztes und schrie wie eine Kreissäge, die man am Starkstrom angeschlossen hatte.
    Dr. Bergmann war sichtlich erleichtert, dass ich endlich geboren war und er sich der Kritik meiner Eltern nun entziehen konnte. Er hielt mich wie einen zwanzigpfündigen Prachtkarpfen an beiden Beinen in die Höhe, und sofort fiel meinen Eltern sowie dem Arzt eine anatomische Besonderheit auf, die der ganzen Familie in den nächsten Jahren noch viele heitere Stunden bescheren würde. Zwischen meinen Beinen baumelte mein Hoden wie eine riesige rote Boje hin und her, es sah aus, als würde ein unbehaarter Mopsschädel an mir kleben.
    »Oh«, bemerkte mein Vater bei der Beschau des feuerroten Säckchens.
    »Ist das normal?«, fragte meine Mutter, wohl in der Sorge, dass dort statt eines Genitals ein unfertiger siamesischer Zwilling an ihrem Neugeborenen baumelte.
    Dr. Bergmann wirkte selbst unsicher und sagte nur, immer noch völlig außer Atem: »Das ist ein Prachtkerl, so ein Geburtsgewicht.«
    Als ich dann in den Armen meiner Mutter lag, waren meine Eltern überglücklich, der kleine Schönheitsfehler wurde erfolgreich weggelächelt, und Dr. Bergmann machte sich schnellstmöglich davon. Eigentlich kann ich nach diesem Tag froh sein, von meinen Eltern nicht mit einem schönen altdeutschen Namen wie Werther oder Lotte bedacht worden zu sein. Stattdessen gaben sie mir den banalen Vornamen des Helden der »Unendlichen Geschichte«, Bastian Balthasar Bux.

Alternative Erziehungsmethoden
    Mit mir, so behaupten meine Eltern bis heute, könne man jeden Ort nur zwei Mal besuchen. Einmal zum Vorstellen und einmal zum Entschuldigen.
    Meine eigene Erinnerung hingegen ist eine andere. Als Kind war ich kreuzbrav, das Musterbeispiel eines wissbegierigen, friedlichen Jungens, der mit Natur und Umwelt in einem dauerhaften Zustand buddhistischer Harmonie weilte – und ein bisschen dick war.
    Der Erzählung meiner Eltern nach stimmt diese Selbstwahrnehmung nicht ganz mit der Realität überein. Für sie war ich der gewindelte Reiter der Apokalypse, der auf einer pinken Version von »My little Pony« die Welt aus vollem Herzen ins Unheil stürzte.
    Ich glaube im Nachhinein, dass mein Ruf als der irdische Stellvertreter Satans nur einem fundamentalen Missverständnis zugrunde liegt. Erstens litt ich damals unter einer so starken Laktoseintoleranz, dass ich schon beim Anschauen einer Kuh zum Hulk mutierte, zweitens verstanden viele Kinder meine grundlegende Hilfsbereitschaft einfach falsch. Als Lehrerkind war ich von Natur aus wissbegierig, und die anderen plante ich im Zuge meiner Forschungen kurzerhand als Probanden mit ein.
    So kam es auch, dass die mittägliche Ruhe meines Vaters bei meiner Beaufsichtigung am Spielplatz des Öfteren von den erzürnten Eltern der anderen Kinder gestört wurde.
    Einmal, mein Vater suchte gerade seinen Leserbrief in der neuen Ausgabe des »Stern«, trat eine Frau mit blutrot geschwollenem Kopf vor ihn und formulierte den schönen Satz: »Ihr Sohn hat meinen Sohn zum Pharao erkoren … zum P H A R A O!«
    An ihrer Hand hing der kleine Kollateralschaden meiner Bemühungen und heulte Rotz und Wasser. Sein Name war Julian, ein unfertig wirkendes Kind, dem man ein Pflaster über eines seiner Brillengläser geklebt hatte. Klein Julian war über und über mit klebrigem Spielplatzsand beschmutzt, selbst seine Haare waren damit bedeckt.
    »Ist doch
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