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Lehrerkind

Lehrerkind

Titel: Lehrerkind
Autoren: Bastian Bielendorfer
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für die Ereignisse meines kommenden Lebens. Wie meine Eltern immer gern erzählen, bin ich als Lehrerkind pünktlich zum Ende der sechsten Stunde, um 13.40 Uhr geboren. Meine Mutter musste sich den Geburtsschmerz ohne die Unterstützung meines Vaters mit der Lektüre von Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« versüßen, da er aus nachvollziehbaren Gründen nicht anwesend war. Es war Schule, und mein Vater hatte das Berufsethos eines NASA-Astronauten. Noch keinen einzigen Tag seiner Schullaufbahn hatte er verpasst, und selbst bei einem Angriff mit Milzbrandviren hätte er sich unter dem sorgsam aufgesetzten Mundschutz nur ein müdes Lächeln abgerungen und die flüchtenden Schüler dann als »fehlend« im Klassenbuch vermerkt.
     
    Jedenfalls war es so, dass mein Vater einen längeren Monolog über die Figur des Mephisto hielt, während ich mich langsam durch den Geburtskanal dem Leben entgegenschraubte. Da ich, wie sich auch in den Folgejahren noch zeigen würde, für mein Alter etwas zu groß und zu schwer war, führte meine Mutter ihrerseits ein persönliches Zwiegespräch mit Mephisto, das den deutschen Sprachraum um ein paar ganz neue Ächz- und Stöhnlaute bereicherte. Mein Vater dagegen beendete seinen Vortrag pflichtgemäß, packte ordentlich die Ledertasche zusammen und eilte dann, ohne in einen unstandesgemäßen Trab zu fallen, dem Kreißsaal entgegen. Meine Mutter geduldete sich, den letzten Rest des Brockens hervorzupressen, bis er ebenfalls anwesend war. Ach, was wäre Weihnachten bei uns zu Hause ohne die Geschichte meiner Geburt. Wo andere Familien die Ankunft des Jesuskindleins besingen, erzählen meine Eltern freudig von diesem so ereignisreichen Tag. Die Show ging nämlich noch weiter, denn ein ehemaliger Oberstufenschüler meines Vaters war der Arzt, der meine Entbindung zu verantworten hatte.
    Obwohl aus dem verschüchterten Siebzehnjährigen mit der grobporigen Mischhaut mittlerweile ein Mittdreißiger mit Halbglatze und Oberarzttitel geworden war, verschlug es ihm beim Anblick meines Vaters erneut die Sprache. Manche hierarchischen Strukturen lösen sich nie auf, und während der Arzt an meiner platten Fontanelle herumkasperte, fing mein Vater an, ein paar der Abiturklausurergebnisse aus dem Jahr 1973 zu erläutern.
    »Mein Gott, Tobias, selten hat jemand die ›Leiden des jungen Werther‹ so falsch verstanden wie du, habe ich dir denn nichts beigebracht?«, eröffnete mein Vater den Reigen seiner Vorwürfe, die in diesem Moment nun endlich besprochen werden mussten.
    Meine Mutter kreischte währenddessen wie Keith Richards Leberflanke und forderte meinen Vater unmissverständlich auf, mal mit diesem »alten Scheiß« aufzuhören.
    »Aber Schatz, das kannst du nicht verstehen, der Junge war eigentlich ein ganz guter Schüler, aber bei der Abiturklausur habe ich Ohrensausen bekommen. Tobias, jetzt mal ehrlich, das war wirklich Käse!«
    Dr. Tobias Bergmann führte zu seiner Verteidigung nur ein schmallippiges »Ich war halt aufgeregt, Herr Bielendorfer« ins Feld, während er weiter mit einer Saugglocke an meinem abstrus großen Schädel pumpte. Da es Fotos gibt, die mein Vater in diesem Moment mit einer Einwegkamera geschossen hat, habe ich die Szene glücklicherweise immer vor Augen.
    »Ach, aufgeregt, was ist das denn für eine Erklärung – also ich habe mich danach wirklich gefragt, was aus dir werden soll, Tobias.«
    Erfolgreich negierte mein Vater den Fakt, dass Dr. Bergmann mittlerweile Oberarzt war und gerade seinem Sohn die Geburt ermöglichte.
    »Robert, jetzt hör sofort auf damit, ich bekomme hier ein Kind«, insistierte meine Mutter, deren Schlagader so stark pochte, als hätte ich von innen dagegengeklopft.
    Dr. Bergmann schien erleichtert zu sein, er wollte mir wohl nicht versehentlich eine Mulde in die unfertige Rübe pümpeln, nur weil er sich ausgerechnet jetzt für eine fünfzehn Jahre zurückliegende Abiturklausur rechtfertigen sollte.
    »Das ist ja auch schön, mein Herz, aber der Tobias hat damals wahrhaftig geschrieben, dass der Werther und seine Geliebte Lotte Geschwister seien, kannst du dir das vorstellen, Geschwister!«
    »Geschwister!?!«, sagte meine Mutter im gleichen Tonfall der Empörung, schließlich hatte sie ebenfalls Deutsch studiert und fühlte sich, ebenso wie mein Vater, von so viel Unkenntnis der Weltliteratur beleidigt.
    »Sie haben geschrieben, Lotte und Werther wären Geschwister, sind Sie denn noch bei Trost?« Der Geburtsschmerz schien
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