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Leberkäsweckle

Leberkäsweckle

Titel: Leberkäsweckle
Autoren: Bernd Weiler
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dem Zweitplatzierten im Ziel gewesen war. Sie lächelte. Mit einem weiten Satz sprang sie über die Uferböschung. Auf dem Eis war das Laufen einfacher als auf der schneebedeckten Wiese. Sie rannte. Sie hörte die anspornenden Rufe ihrer Lehrerin, sie spürte die Blicke der Klassenkameraden, die am Rande der Bahn standen und ihren Triumph ehrfurchtsvoll verfolgten.
    Jeden Moment würden ihre Beine nachgeben, sechs Kilo hatte sie zugenommen im vergangenen Jahr. Sie ignorierte den Schmerz und rannte schneller. Ein leichter Wind kam auf, er kroch eiskalt in ihren Kragen. Ihren violetten Schal hatte sie längst verloren.
    In der Mitte des Sees blieb sie stehen.
    Am Ufer erkannte sie seine schwarze Silhouette. Die Pistole hielt er in der rechten Hand, sein Arm hing entspannt nach unten. Natürlich war die Waffe nicht geladen.
    Unter ihr knackte das Eis. Augenblicke später stand sie in einer Pfütze. Zwischen ihren Füßen bildete sich ein Riss.
    Sie schrie, und diesmal drang es als der Schrei einer Sterbenden bis ins Nachbardorf. Dann brach sie ein.
    Die schwarze Gestalt am Ufer beobachtete noch einige Minuten den Überlebenskampf. Sie fand keinen Halt. Wann immer sie versuchte, sich am Eis aus dem Wasser zu ziehen, brach eine Scholle ab. Sie schnitt sich an den scharfen Kanten, ihr Blut dampfte auf dem Eis. Bald konnte sie sich nicht mehr über Wasser halten, schließlich war es still. Die Wellen glätteten sich, die Schollen ächzten nicht mehr. Die schwarze Gestalt entfernte sich.
    Am nächsten Tag zeigten Spaziergänger auf das Loch im Eis, in dem wohl ein Tier eingebrochen sein musste. Binnen vierundzwanzig Stunden war die Eisdecke wieder geschlossen. Dann schneite es drei Tage lang.

2
    Der Anruf kam um zehn. Sebastian Möllner tippte gerade den Bericht des Vorabends, eine harmlose Sache. Ein Sechzehnjähriger aus der Südstadt befand sich im Dauerstreit mit einer Schulclique. Regelmäßig gaben sie ihm durch Botschaften zu verstehen, dass sie noch nicht fertig mit ihm waren. Die Mitteilungen wurden wahlweise in sein Mofa oder in das Display seines Smartphones gekratzt. Sebastian hatte mit der Gruppe gesprochen, die alles abstritt, aber durch ihr Verhalten zu verstehen gegeben hatte, dass sie durchaus stolz auf ihre Taten waren. Es waren gutbürgerliche Mittelstandssprösslinge, die Sebastian in der Gruppe mit dem krassesten Kiezdeutsch zutexteten – im Einzelgespräch aber so breites Schwäbisch sprachen, dass Sebastian Mühe hatte, ihnen zu folgen. Er hoffte, dass er sie diesmal endlich wegen Sachbeschädigung drankriegte.
    Sebastian überflog den Bericht und kürzte einige Stellen. Diese »Fälle« waren trivial und lächerlich. Eine ernsthafte Beleidigung für seinen Intellekt. Aber das vergangene Jahr war voll davon gewesen, Familienstreit folgte Jugendbandenstreit folgte Diebstählen, die niemals gelöst werden würden und nur aus Trotz zur Anzeige gebracht wurden. Sebastian massierte sich die Nasenwurzel. Er fühlte die beginnende Depression wie einen abklingenden Kater. Sein Leben lang hatten die Aufgaben, die man ihm übertragen hatte, nie seinen Ansprüchen an sich selbst entsprochen, weder in der Schule noch im Studium noch während der Ausbildung. Und mit jeder Beförderung wurde es schlimmer. Er war erst vierunddreißig, und nun würde er bis zur Pension diesen dämlichen Fällen nachgehen oder in einer Kurzschlussreaktion den Dienst quittieren. Er fürchtete sich vor beidem. Er hatte die Position als Kommissar vor nicht ganz vierzehn Monaten angenommen, nachdem er unerwartet an die Spitze der Beförderungshierarchie geklettert war.
    Nacheinander waren in dem Urwald von Ranghöheren und beflissenen Arschkriechern die Bäume wie Streichhölzer umgeknickt. Andreas Wagner hatte auf einem Empfang des Innenministers die achtzehnjährige Tochter des Polizeipräsidenten ein wenig zu intensiv mit Bowle versorgt, Mathias Borsig war strafversetzt worden, niemand wusste, weshalb. Fred Maurer war nach einem irgendwie bekannt gewordenen Abmahnungsprozess, bei dem ihm das Herunterladen und Verbreiten von vier Dutzend schwedischer Pornos nachgewiesen werden konnte, als Vorgesetzter nicht mehr tragbar gewesen. Es gab einen Todesfall, mehrere Versetzungen und eine beträchtliche Fluktuation zu privaten Sicherheitsfirmen.
    Als schließlich die jährlichen Pensionierungen weitere Stellen freigegeben hatten, stand Sebastian alleine auf weiter Flur. Vor Hedwig Bausch-Mahnfeld, der Leiterin der Innenstadtpolizei, hatte
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