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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman
Autoren: Kate Atkinson
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er geradewegs zum Discovery zurückkehrte.
     
    Am Wasserfall war es hübsch. Kalkstein und Moos. Die Bäume waren schwarz und skelettartig, und das Wasser, braun und moorig, sah nach Hochwasser aus, aber vielleicht tat es das immer. In der Gegend nannten sie den Wasserfall eine »Kraft«, und das war ein gutes Wort dafür. Eine unaufhaltsame Kraft. Wasser fand immer einen Weg, letzten Endes war es stärker als alles andere. Papier, Schere, Stein, Wasser. Möge die Kraft mit dir sein. Er schaute erneut auf seine teure Uhr. Er wünschte, er würde noch rauchen. Er hätte auch nichts gegen einen Drink. Wenn man nicht rauchte und trank, dann konnten zehn tatenlose Minuten an einem Wasserfall wirklich lang werden, weil man mit seinen Gedanken allein war.
    Er kramte in seiner Tasche nach der mitgebrachten Plastiktüte. Vorsichtig ließ er die Haare hineingleiten, verschloss sie mit einer Büroklammer und steckte sie in seine Jackentasche. Er hatte die hauchdünnen schwarzen Fasern, die er dem Jungen ausgerissen hatte, bislang fest in der Hand gehalten. Aufgabe erledigt.
    Zehn Minuten waren vorbei. Er kehrte rasch zum schmutzbespritzten Discovery zurück. Unter normalen Umständen wäre er in einer Stunde in Northallerton und säße dann wieder im Zug nach London. Er entledigte sich der OS -Karte, legte sie auf eine Bank, ein unvorhergesehenes Geschenk für jemanden, der glaubte, dass Wandern die richtige Fortbewegungsart war. Dann stieg Jackson Brodie in seinen Wagen und ließ den Motor an. Es gab nur einen Ort, an dem er sein wollte. Zu Hause. Nichts wie weg hier.

Leben und Abenteuer von Reggie Chase, unter Einbeziehung einer wahrhaftigen Schilderung von Glücksfällen und Missgeschicken, Aufstieg und Fall und vollständigem Werdegang der Familie Chase
    R eggie löffelte dem Baby Gemüsebrei in den Mund. Nur gut, dass das Baby in seinem Hochstuhl festgeschnallt war, denn es streckte immer wieder Arme und Beine und versuchte, sich in die Luft zu stürzen wie ein selbstmörderischer Seestern. »Unkontrollierbare Freude«, hatte Dr. Hunter Reggie erklärt. Dr. Hunter lachte. »Essen macht ihn sehr glücklich.« Das Baby war nicht heikel, der Gemüsebrei (»Süßkartoffel und Avocado«) roch wie alte Socken und sah aus wie Hundedurchfall. Das Baby bekam nur organisches Essen, von Dr. Hunter selbst gekocht, püriert und in kleinen Plastikbehältern eingefroren, so dass Reggie es in der Mikrowelle nur auftauen und warm machen musste. Das Baby war gerade ein Jahr alt, und Dr. Hunter stillte es noch, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam. »So viele langfristige Vorteile für seine Gesundheit«, sagte sie. »Dafür sind Brüste da«, fügte sie hinzu, als Reggie verlegen den Blick abwandte. Das Baby hieß Gabriel. »Mein Engel«, sagte Dr. Hunter.
    Reggie war jetzt seit einem halben Jahr Dr. Hunters »Haushaltshilfe«. Sie hatten sich beim sogenannten Vorstellungsgespräch auf diese altmodische Ausdrucksweise geeinigt, weil beide das Wort »Kindermädchen« nicht mochten. »Klingt zickig«, sagte Reggie. »Ich hatte mal ein Kindermädchen«, sagte Dr. Hunter. »Sie war absolut grauenhaft.«
    Reggie war sechzehn und hätte für zwölf durchgehen können. Wenn sie die Monatskarte für den Bus vergaß, ließ man sie mit einer Kinderkarte einsteigen. Niemand fragte nach, niemand überprüfte, niemand beachtete Reggie. Manchmal fragte sie sich, ob sie unsichtbar war. Es war ganz einfach, durch die Maschen zu fallen, vor allem wenn man klein war.
    Als ihre Monatskarte ablief, bot Billy sich an, ihr eine neue zu machen. Er hatte ihr bereits einen Ausweis gemacht. »Damit du in Kneipen gehen kannst«, sagte er, aber Reggie ging nie in Kneipen. Zum einen hatte sie niemanden, der mit ihr gegangen wäre, zum anderen hätte niemand den gefälschten Ausweis ernst genommen. Erst letzte Woche, als sie am Sonntag in Mr. Hussains Laden die Frühschicht übernommen hatte, sagte eine Frau zu ihr, dass sie zu jung sei, um Make-up zu tragen. Reggie hätte am liebsten erwidert, »Und Sie sind zu alt«, aber im Gegensatz zu offenbar allen anderen auf der Welt behielt sie ihre Ansichten lieber für sich.
    Reggie lief herum und sagte »Ich bin sechzehn« zu Leuten, die ihr nicht glaubten. Das Blöde war, dass sie innerlich hundert Jahre alt war. Und außerdem wollte Reggie nicht in Kneipen gehen, sie begriff nicht, wozu Alkohol oder Drogen gut sein sollten. Die Leute hatten sowieso schon zu wenig Kontrolle über ihr Leben. Reggie dachte an Mum
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