Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman
Autoren: Kate Atkinson
Vom Netzwerk:
und den Mann-der-vor-Gary-kam, wie sie sich billigen Weißwein von Lidl hinter die Binde kippten und »ihre Hemmungen ablegten«, wie der Mann-der-vor-Gary-kam es nannte. Gary hatte zwei große Vorteile gegenüber dem Mann-der-vor-ihm-kam – erstens, er war nicht verheiratet, und zweitens, er gaffte Reggie nicht jedes Mal lüstern an, wenn er sie sah. Wenn Mum Gary nicht kennengelernt hätte, würde sie jetzt – Reggie schaute auf ihre Uhr – Barcodes einscannen und sich auf die Nachmittagspause freuen (Tee, Twix und eine Fluppe, Liebes).
    »Willst du ein Handy?«, fragte Billy sie immer wieder und nahm zwei oder drei aus der Tasche. »Was für eins willst du – Nokia, Samsung?« Es war zwecklos, Billys Handys funktionierten nie länger als eine Woche. Es schien ihr in jeder Beziehung sicherer, bei ihrem Virgin-Prepaid zu bleiben. Reggie gefiel es, wie Richard Branson »Virgin« zu einer riesigen globalen Marke aufgebaut hatte, so wie die Katholiken Jesus’ Mutter. Sie sah das Wort gern dort draußen. Reggie wäre zufrieden, als Jungfrau zu sterben. Die Königin der Jungfrauen, Virgo Regina. Eine vestalische Jungfrau. Ms MacDonald behauptete, dass vestalische Jungfrauen, die »ihre sexuelle Unschuld verloren«, lebendig begraben wurden. Das vestalische Feuer verlöschen zu lassen war ein Zeichen der Unreinheit, was ziemlich hart schien. Wie neurotisch wurde man deswegen? Vor allem zu einer Zeit, als es noch keine Feuerzeuge gab.
    Sie hatten gemeinsam unvorbereitet ein paar Briefe von Plinius übersetzt. »Plinius der Jüngere«, betonte Ms MacDonald immer, als wäre es von entscheidender Bedeutung, dass man die Pliniusse auseinanderhalten konnte, wenn es wahrscheinlich kaum mehr jemanden auf Erden gab, dem es nicht scheißegal war, wer der Jüngere und wer der Ältere war. Dem sie nicht überhaupt scheißegal waren, Punkt.
    Dennoch, es war gut zu wissen, dass Billy etwas für sie tun wollte, auch wenn es fast immer etwas Ungesetzliches war. Den Ausweis hatte sie angenommen, weil er praktisch war, wenn wieder einmal niemand glaubte, dass sie sechzehn war, aber die Buskarte hatte sie abgelehnt. Man wusste nie, es konnte der erste Schritt einen rutschigen Abhang hinunter sein, der womöglich zu etwas viel Schlimmerem führte. Billy hatte damit angefangen, Bonbons in Mr. Hussains Laden zu stibitzen, und man sehe ihn sich jetzt an, nahezu ein Berufsverbrecher.
     
    »Hast du Erfahrung mit Kindern, Reggie?«, hatte Dr. Hunter sie bei dem sogenannten Vorstellungsgespräch gefragt.
    »Ach, jede Menge. Wirklich. Jede Menge«, erwiderte Reggie, nickte und lächelte Dr. Hunter aufmunternd zu, die nicht viel Erfahrung mit Vorstellungsgesprächen zu haben schien. »Jede Menge, ich schwör’s.«
    Reggie hätte sich selbst nicht eingestellt. Sechzehn und keinerlei Erfahrung mit Kindern, aber großartige Zeugnisse, was ihren Charakter betraf, von Mr. Hussain und Ms MacDonald und einen Brief von Mums Freundin Trish, die schilderte, wie gut sie mit Kindern umgehen konnte, basierend auf der Tatsache, dass sie als Gegenleistung für ein Abendessen ein Jahr lang jeden Montagabend mit Grant, Trishs Deppen von Ältestem, verbracht und versucht hatte, ihn durch den Hauptschulabschluss in Mathe zu schleusen (ein hoffnungsloser Fall, so es je einen gab).
    Reggie war noch nie zuvor einem einjährigen oder einem anderen Kleinkind nahe gekommen, aber was gab es da schon zu wissen? Sie waren klein, sie waren hilflos, sie waren verwirrt, alles Eigenschaften, mit denen sich Reggie mühelos identifizieren konnte. Und es war noch nicht lange her, dass sie selbst ein Kind gewesen war, obwohl sie laut einer Wahrsagerin eine »alte Seele« hatte. Der Körper eines Kindes mit dem Verstand einer alten Frau. Alt vor der Zeit. Nicht, dass sie an Wahrsagerinnen glaubte. Die Wahrsagerin, die ihr von ihrer alten Seele erzählt hatte, lebte in einem neuen Haus mit Blick auf die Pentlands und hieß Sandra. Reggie hatte sie auf dem Polterabend für eine von Mums Freundinnen kennengelernt, die eine weitere katastrophale Ehe eingehen wollte, und Reggie war wie immer mitgegangen, wie ein Maskottchen. So war es, wenn man keine eigenen Freundinnen hatte, dein Sozialleben bestand aus Ausflügen zu Wahrsagerinnen, Bingohallen und Konzerten von Daniel O’Donnell (»Pass the Revels along to Reggie«). Kein Wunder, dass sie eine alte Seele hatte. Auch jetzt, da Mum nicht mehr da war, riefen ihre Freundinnen sie noch an. »Wir fahren nach Glasgow zum
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher