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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman
Autoren: Kate Atkinson
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aber das, was sie jetzt, dreißig Jahre später, in den Wahnsinn trieb, war, dass sie sich nicht an den Namen des Hundes erinnern konnte. Und es gab niemanden, den sie hätte fragen können.

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II
Heute

Fleisch und Blut
    D ie Wiese war so lang wie das Dorf und wurde von einer schmalen Straße zweigeteilt. Die Grundschule ging auf die Wiese hinaus. Die Wiese war nicht, wie erwartet, quadratisch, genauso wenig gab es den Ententeich, den er sich ebenfalls vorgestellt hatte. Da er aus derselben Grafschaft stammte, sollte man denken, dass er diesen Landstrich kannte, aber es war ein fremdes Kornfeld für ihn. Seine Kenntnisse der Yorkshire Dales waren aus zweiter Hand, zusammengesetzt aus Film und Fernsehen – da eine Szene aus Emmerdale, dort eine halb wache Nacht auf dem Sofa, während Kalender Girls im Kabelsender lief.
    Es war still heute, ein Mittwochmorgen Anfang Dezember. Ein Weihnachtsbaum stand auf der Wiese, noch so, wie die Natur ihn geschaffen hatte, ungeschmückt und unbeleuchtet.
    Das letzte (erste) Mal, als er hier war, um das Dorf in Augenschein zu nehmen, war an einem Sonntagnachmittag im Hochsommer gewesen, und es hatte vor Menschen nur so gewimmelt, Touristen picknickten auf der Wiese, kleine Kinder tollten herum, alte Leute saßen auf Bänken, alle aßen Eis. Am Ende der Wiese befand sich eine Art Sandkasten, in dem Leute – Einheimische, keine Touristen – etwas spielten, was er für Quoits hielt: sie warfen große eiserne Ringe, die schwer wie Hufeisen waren. Ihm war nicht klar gewesen, dass so etwas noch gespielt wurde. Es war bizarr. Es war mittelalterlich. Auf der Wiese befanden sich neben dem Marktkreuz noch ein Pranger und – laut dem Reiseführer, den er gekauft hatte – ein »bull ring«. Er dachte an das Einkaufszentrum gleichen Namens in Birmingham, bis er weiterlas und feststellte, dass der Zweck des »bull ring« in der Stierhetze bestanden hatte. Er nahm an (hoffte), dass Pranger und »bull ring« historisch – für die Touristen – und nicht mehr in Gebrauch waren. Das Dorf war ein Ort, an den die Leute mit dem Auto fuhren, um auszusteigen und spazieren zu gehen. Das tat er nie. Wenn er spazieren ging, dann brach er von da auf, wo er sich gerade befand.
    Er versteckte sich hinter der Darlington and Stockton Times und studierte die Kleinanzeigen der Bestattungsinstitute, Raumgestalter und Gebrauchtwagenhändler. Er hielt sie für weniger auffällig als eine überregionale Zeitung, er hatte sie in Hawes gekauft und nicht im Dorfladen, wo er vielleicht zu große Aufmerksamkeit erregt hätte. Die Leute hier hatten gut entwickelte Antennen für die falsche Art von Fremden. Wahrscheinlich verbrannten sie jeden Sommer einen Mann aus Weidenzweigen.
    Letztes Mal hatte er einen schicken Wagen gefahren, jetzt war er besser angepasst und fuhr einen schmutzbespritzten, gemieteten Discovery, trug Wanderstiefel und eine Jacke von North Face mit Fleecefutter, und um seinen Hals hing in einer Plastikhülle ein OS -Reiseführer, den er ebenfalls in Hawes erworben hatte. Wenn er einen hätte organisieren können, hätte er sich einen Hund ausgeliehen, und dann hätte er wie ein Klon des durchschnittlichen Besuchers ausgesehen. Man sollte Hunde mieten können. Das war eine Marktlücke.
    Er war vom Bahnhof mit dem Leihwagen gefahren. Er wäre die ganze Strecke (in seinem schicken Wagen) gefahren, aber nachdem er sich auf den Fahrersitz gesetzt hatte und den Motor anlassen wollte, musste er feststellen, dass die Maschine tot war. Vermutlich etwas Mysteriöses wie zum Beispiel die Elektronik. Jetzt wurde er in einer Werkstatt in Walthamstow von einem Polen namens Emil versorgt, der Zugang (ein hübscher Euphemismus) zu Original- BMW -Ersatzteilen zum halben Preis einer offiziellen BMW -Werkstatt hatte.
    Er schaute auf die Uhr, eine goldene Breitling, ein teures Geschenk. Schöne Stunden. Er mochte männliche Paraphernalien – Autos, Messer, technische Spielereien, Armbanduhren –, aber er war sich nicht sicher, ob er so viel Geld für eine Uhr ausgegeben hätte. »Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul«, hatte sie lächelnd gesagt, als sie sie ihm gab.
    »Oh, verdammt, jetzt kommt schon«, murmelte er und schlug mit dem Kopf gegen das Lenkrad, aber sanft für den Fall, dass er die Aufmerksamkeit eines einheimischen Passanten auf sich zog. Er wusste, dass er sich trotz seiner Verkleidung nur begrenzt in einem kleinen Ort wie diesem aufhalten konnte, ohne dass jemand anfing,
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