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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman
Autoren: Kate Atkinson
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Lieblingskleid, rote Erdbeeren auf blauem Grund. Ihre Mutter meinte, dass es alt sei und sie nächsten Sommer etwas für Joanna daraus nähen würde, wenn sie wollte. Joanna sah, wie sich die Muskeln in den braunen Beinen ihrer Mutter anspannten, als sie den Buggy die Steigung hinaufschob. Sie war stark. Ihr Vater sagte, sie sei »ungebärdig«. Joanna mochte das Wort. Jessica war auch ungebärdig. Joseph war noch nichts. Er war nur ein Baby, dick und zufrieden. Er mochte Haferbrei und zerdrückte Banane und das Mobile aus kleinen Papiervögeln, das ihre Mutter für ihn gebastelt hatte und das über seinem Bettchen hing. Er mochte es, wenn er von seinen Schwestern gekitzelt wurde. Er mochte seine Schwestern.
    Joanna spürte, dass ihr Schweiß über den Rücken rann. Das fadenscheinige Baumwollkleid klebte ihr an der Haut. Sie hatte es von Jessica geerbt. »Arm, aber ehrlich«, sagte ihre Mutter und lachte. Ihr großer Mund verzog sich nach unten, wenn sie lachte, und sie sah nie glücklich aus, auch wenn sie es war. Alles, was Joanna hatte, stammte von Jessica. Es war, als gäbe es ohne Jessica keine Joanna. Joanna füllte die Räume, die Jessica zurückließ, wenn sie weiterzog.
    Auf der anderen Seite der Hecke muhte unsichtbar eine Kuh, und Joanna zuckte zusammen. »Das war nur eine Kuh«, sagte ihre Mutter.
    »Red-Devon-Kühe«, sagte Jessica, auch wenn sie sie nicht sehen konnte. Woher wusste sie das? Sie wusste die Namen von allem, was sichtbar oder unsichtbar war. Joanna fragte sich, ob sie je so viel wissen würde wie Jessica.
    Nachdem sie den Weg ein Stück weit entlanggegangen waren, kamen sie zu einem hölzernen Gatter mit einem Drehkreuz. Der Buggy passte nicht durch das Drehkreuz, weshalb sie das Gatter öffnen mussten. Jessica ließ den Hund von der Leine, und er kletterte über das Gatter, wie sie es ihm beigebracht hatte. Auf einem Schild stand: »Bitte das Gatter schließen«. Jessica lief immer voraus und zog den Riegel zurück, dann stießen sie zu zweit das Gatter an, stellten sich darauf und schwangen es so auf. Ihre Mutter mühte sich mit dem Buggy, weil der Schlamm vom Winter in tiefen, krummen Furchen getrocknet war, in denen die Räder hängenblieben. Sie schwangen auf dem Gatter zurück, und Jessica verriegelte es. Manchmal ließen sie sich mit dem Kopf nach unten vom Gatter hängen, und ihr Haar reichte bis zum Boden und fegte darüber wie ein Besen, und ihre Mutter sagte: »Das sollt ihr doch nicht tun.«
    Der Weg grenzte an ein Feld. »Weizen«, sagte Jessica. Der Weizen war sehr hoch, wenn auch nicht so hoch wie die Hecke neben dem Weg. »Der wird bald geerntet werden«, sagte ihre Mutter. »Sie werden ihn abschneiden«, fügte sie für Joanna hinzu. »Dann werden wir niesen und keuchen, wir beide.« Joanna keuchte bereits, sie hörte die Luft in ihrer Brust pfeifen.
    Der Hund lief ins Weizenfeld und verschwand. Einen Augenblick später sprang er wieder heraus. In der Woche zuvor war Joanna dem Hund ins Feld gefolgt und hatte nicht mehr herausgefunden, und sie suchten sie sehr lange. Sie hörte sie rufen, aber sie entfernten sich immer weiter von ihr, und niemand hörte ihre Rufe. Der Hund fand sie.
    Auf halbem Weg setzten sie sich im Schatten eines Baums ins Gras neben dem Weg. Ihre Mutter nahm die Plastiktüten von den Griffen des Buggy und zog kleine Kartons mit Orangensaft und eine Schachtel mit Schokoladenkeksen aus einer Tüte. Der Orangensaft war warm, die Schokoladenkekse waren zusammengeklebt. Sie gaben dem Hund ein paar Kekse. Ihre Mutter lachte mit nach unten gezogenen Mundwinkeln und sagte, »Gott, was für eine Schweinerei«, schaute in die Babytasche und holte Wischtücher für ihre schokoladenverschmierten Hände und Münder heraus. Als sie noch in London lebten, machten sie richtige Picknicks, beluden den Kofferraum des Wagens mit einem großen Korb von der Mutter ihrer Mutter, die zwar reich, aber tot war (was offensichtlich nur zu ihrem Besten war, weil sie nicht mit ansehen musste, dass ihre einzige Tochter mit einem selbstsüchtigen, fremdgehenden Geldverschwender verheiratet war). Wenn ihre Großmutter reich gewesen war, warum hatten sie dann kein Geld? »Ich bin durchgebrannt«, sagte ihre Mutter. »Ich bin davongelaufen, um euren Vater zu heiraten. Es war sehr romantisch. Damals. Wir hatten nichts.«
    »Ihr hattet den Picknickkorb«, sagte Jessica, und ihre Mutter lachte und sagte: »Du kannst wirklich witzig sein, weißt du das?« Und Jessica sagte: »Ich
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