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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman
Autoren: Kate Atkinson
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Fragen zu stellen. Er seufzte und blickte wieder auf die Uhr. Er gab sich noch zehn Minuten.
    Nach neun Minuten und dreißig Sekunden (er zählte mit – was sonst gab es hier zu tun? Der Zeit zuschauen) kam eine Vorhut, bestehend aus zwei Jungen und zwei Mädchen, aus der Schultür gerannt. Sie trugen Fußballtore und stellten sie gekonnt auf der Wiese auf. Die Wiese diente offenbar als Schulhof. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es war, in so einer Schule unterrichtet zu werden. Seine Grundschule war ein miserabel ausgestattetes, überfülltes Drecksloch gewesen, in dem der Sozialdarwinismus fröhliche Urständ feierte. Es überlebten die Schnellsten. Das war das Positive gewesen, das man ihm beigebracht hatte. Seine eigentliche Ausbildung, als er tatsächlich in einem Klassenzimmer saß und etwas lernte, erhielt er in der Armee.
    Ein Strom Kinder in Sportkleidung floss aus der Schule und ergoss sich über die Wiese wie ein Delta. Es folgten zwei Lehrer, die Fußbälle aus einem Korb verteilten. Er zählte die Kinder, alle siebenundzwanzig. Die Kleinen kamen zuletzt.
    Dann kamen die, auf die er wartete – die Vorschulkinder. Jeden Mittwoch- und Freitagnachmittag trafen sie sich in dem kleinen Anbau hinter der Schule. Nathan war einer der Kleinsten, stolperte an der Hand eines viel älteren Mädchens hinterher. Nat. Klein wie eine Mücke. Er steckte in einem Schneeanzug. Er hatte dunkle Augen und schwarze Locken, die er unbestreitbar von seiner Mutter geerbt hatte. Eine kleine Stubsnase. Es bestand keine Gefahr, Nathans Mutter war nicht da, sie besuchte ihre Schwester, die Brustkrebs hatte. Niemand kannte ihn hier. Fremder in einem fremden Land. Keine Spur von Mr. Arty-Farty. Dem falschen Vater.
    Er stieg aus dem Wagen, streckte sich, konsultierte die Karte. Schaute sich um, als wäre er gerade angekommen. Er hörte den Wasserfall. Man sah ihn vom Dorf aus nicht, aber man hörte ihn. Skizziert von Turner laut Reiseführer. Er schlenderte über ein Stück Wiese, als wollte er zu einem der vielen Fußgängerwege, die das Dorf wie ein Spinnennetz durchzogen. Blieb stehen, tat so, als würde er erneut die Karte studieren, spazierte näher zu den Kindern.
    Die größeren Kinder wärmten sich auf, warfen und schossen einander Bälle zu. Ein paar der Älteren trainierten Kopfbälle. Nathan versuchte, einem Mädchen aus der Vorschule einen Ball zuzuschießen. Er stolperte über seine eigenen Füße. Er war zwei Jahre und drei Monate alt. Das Gesicht vor Konzentration verzerrt. Verletzlich. Er hätte ihn mit einer Hand hochheben, zum Discovery zurücklaufen, ihn auf den Rücksitz werfen und davonfahren können, bevor jemand reagiert hätte. Wie lange hätte die Polizei gebraucht? Ewig, genau so lange.
    Der Ball rollte auf ihn zu. Er hob ihn auf, grinste Nathan an und sagte: »Ist das dein Ball, Kleiner?« Nathan nickte schüchtern, und er hielt ihm den Ball hin wie einen Köder, lockte ihn zu sich. Sobald er in Reichweite war, gab er ihm mit einer Hand den Ball und fuhr mit der anderen über den Kopf des Jungen, tat so, als wollte er ihm das Haar zerzausen. Der Junge wich zurück, als hätte er sich verbrüht. Das Mädchen aus der Vorschule nahm den Ball und zerrte Nathan an der Hand weg, schaute finster über die Schulter. Mehrere Frauen – Mütter und Lehrerinnen – blickten in seine Richtung, aber er studierte wieder die Karte, heuchelte Gleichgültigkeit für alles, was um ihn herum vor sich ging.
    Eine Mutter kam auf ihn zu, ein freundliches, höfliches Lächeln im Gesicht, und sagte: »Kann ich Ihnen helfen?« Tatsächlich meinte sie: »Wenn Sie vorhaben, einem dieser Kinder etwas zu tun, schlage ich Sie mit bloßen Händen zu Brei.«
    »Tut mir leid«, sagte er und machte auf charmant. Manchmal überraschte er sich selbst mit seinem Charme. »Ich finde mich nicht zurecht.« Frauen konnten es nie glauben, wenn ein Mann eingestand, dass er sich nicht zurechtfand, und erwärmten sich sofort für ihn. (»Fünfundzwanzig Millionen Spermien sind nötig, um ein Ei zu befruchten«, hatte seine Frau gesagt, »weil nur eins nach der Richtung fragt.«)
    Er zuckte ratlos die Achseln. »Ich suche den Wasserfall.«
    »Der ist dort«, sagte die Frau und deutete hinter ihn.
    »Ah«, sagte er, »ich glaube, ich habe die Karte falsch herum gehalten. Vielen Dank«, fügte er hinzu und marschierte den Weg zum Wasserfall entlang, bevor sie noch etwas sagen konnte. Er musste sich zehn Minuten geben. Es wäre zu verdächtig, wenn
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