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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman
Autoren: Kate Atkinson
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sagte: »Was? Was musst du an Weihnachten erledigen?«, und er zuckte die Schultern und sagte: »Dies und das.« Reggie verbrachte den Rest des Tages mit Mr. Hussain und seiner Familie, die ein erstaunlich viktorianisches Weihnachten feierten. Einen Monat später kam Billy in die Wohnung, als Reggie nicht da war, und nahm das MacBook mit, weil er offensichtlich auch das Konzept des Schenkens nicht verstand.
    Und, seien wir ehrlich, Bibliotheken und Internetcafés waren besser als Reggies leere Wohnung. »Ah, ein sauberes, gut beleuchtetes Café«, sagte Ms MacDonald. Das war der Titel der Erzählung von Hemingway, die sie für Ms MacDonald lesen musste (»Ein grundlegender Text«, brummte sie zornig), obwohl Hemingway für das Abitur nicht vorgeschrieben war. Wäre es nicht besser, protestierte Reggie, wenn sie etwas Vorgeschriebenes lesen würde? »Msss MacDonald«, wie sie stets betonte, und dabei klang sie wie eine wütende Wespe (was eine ziemlich treffende Definition ihres Charakters war).
    Ms MacDonald war ganz versessen darauf, »um das Thema herumzulesen«. (»Willst du eine gute Ausbildung oder nicht?«) Ja, meistens schien sie versessener auf das Herumlesen als auf das Thema selbst. Ms MacDonalds Vorstellung vom Herumlesen um das Thema war etwa so, als wollte man ein Flugzeug erwischen und gleichzeitig schauen, wie weit man sich davon entfernen konnte. Das Leben war zu kurz dafür, wollte Reggie protestieren, nur war das wahrscheinlich kein gutes Argument gegen den Standpunkt einer sterbenden Frau. Reggie hatte sich bei den vorgeschriebenen Texten für Große Erwartungen und Mrs. Dalloway entschieden und meinte, genug damit zu tun zu haben, um die Themen Dickens und Virginia Woolf herumzulesen (das hieß ihr gesamtes »Œuvre« lesen, wie Ms MacDonald es beharrlich nannte), einschließlich der Briefe, Tagebücher und Biographien, ohne sich von Hemingways Erzählungen ablenken zu lassen. Aber Widerstand war zwecklos.
    Ms MacDonald hatte Reggie nahezu alle Romane von Dickens geliehen, und den Rest kaufte sie in den Läden von Wohlfahrtseinrichtungen. Reggie mochte Dickens, in seinen Büchern wimmelte es von tapferen, allein gelassenen Waisen, die sich einen Platz in der Welt erkämpften. Reggie kannte diesen Kampf nur zu gut. Sie nahmen auch Was ihr wollt durch. Reggie und Viola, Waisen des Sturms.
    Ms MacDonald war Altphilologin und Reggies Lehrerin in der schrecklichen piekfeinen Schule gewesen, in die sie einst ging, und versuchte jetzt, Reggie auf das Abitur vorzubereiten. Ms MacDonalds Qualifikation, Reggie in englischer Literatur zu unterrichten, basierte auf Ms MacDonalds Behauptung, alle Bücher gelesen zu haben, die jemals geschrieben worden waren. Reggie zweifelte diese Behauptung nicht an, die Beweise lagen überall in Ms MacDonalds kriminell unordentlicher Wohnung herum. Sie hätte eine Zweigstelle der Bibliothek eröffnen (oder das Haus spektakulär in Flammen aufgehen lassen) können, so viele Bücher stapelten sich hier. Sie besaß zudem ein Exemplar aller Loebs Classic, die je veröffentlicht worden waren, rot für Latein, grün für Griechisch, Hunderte davon in ihrem Bücherregal. Oden und Epoden, Eklogen und Epigramme. Alles.
    Reggie fragte sich, was aus den schönen Loebs werden würde, wenn Ms MacDonald starb. Vermutlich war es nicht sehr höflich, darum zu bitten.
    Der Unterricht war nicht wirklich umsonst, weil Reggie ständig für Ms MacDonald Botengänge erledigte, ihre Medikamente holte und für sie Strumpfhosen in den British Home Stores, Handcreme bei Boots und »diese kleinen Schweinefleischpasteten bei Marks and Spencer« kaufte. Sie war sehr eigen, in welchen Geschäften man was kaufte. Reggie war der Meinung, dass eine Person vor den Toren des Todes nicht allzu zimperlich sein sollte, wenn es um die Herkunft ihrer Schweinefleischpasteten ging. Mit ein wenig Anstrengung hätte Ms MacDonald diese Sachen auch selbst besorgen können, da sie noch immer mit ihrem Auto unterwegs war, einem blauen Saxo, den sie fuhr wie ein leicht erregbarer, kurzsichtiger Schimpanse, beschleunigte, wenn sie hätte bremsen sollen, bremste, wenn sie hätte beschleunigen sollen, langsam auf der Überholspur, schnell auf der linken Spur, wie jemand an einem Simulator in einer Spielhalle und nicht auf einer richtigen Straße.
    Reggie ging nicht mehr in die schreckliche piekfeine Schule, weil sie sich dort wie eine Maus in einem Haus voller Katzen gefühlt hatte. Einzigartige Zusatzangebote, Ausflüge
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