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Lebenslügen / Roman

Lebenslügen / Roman

Titel: Lebenslügen / Roman
Autoren: Kate Atkinson
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und Schulspeisung. Sie hatte mit zwölf ein Stipendium gewonnen, aber es war keine Schule, in der eine Person, die teilweise von einem anderen Planeten stammte, ankam mit nichts als ihrem Grips als Empfehlung. Eine Person, die nie die richtigen Teile der Uniform trug, die nie die richtige Sportkleidung hatte (die im Sport auf ganzer Linie versagte, richtige Kleidung oder nicht), die die geheime Sprache und die Hierarchien der Schule nicht verstand. Ganz zu schweigen von einer Person, die einen älteren Bruder hatte, der bisweilen vor dem Schultor herumhing und die Mädchen mit den gut geschnittenen Frisuren und netten Familien angaffte. Reggie wusste, dass Billy manchen Jungen (nette Familien, guter Haarschnitt et cetera) Drogen verkaufte, Jungen, denen zwar beschieden war, dem spiralförmig in ihren Adern verankerten genetischen Code zu folgen und Anwälte an den Gerichten Edinburghs zu werden, die nichtsdestotrotz Freizeitdrogen von Reggie Chases Wicht von einem Bruder erwarben. Er war genauso alt wie sie, aber in jeder Beziehung anders.
    Von den Schulgebühren hätte man jedes Jahr zwei wirklich gute Autos kaufen können, ihr Stipendium deckte nur ein Viertel davon ab, den Rest zahlte die Armee. »Späte Schuldgefühle«, sagte Mum. Leider gab es niemanden, der für die Zusatzangebote aufkam, die Uniformteile, die ihr ständig fehlten, die Bücher, die Schulausflüge, den guten Haarschnitt. Reggies Vater war Soldat bei den Royal Scots gewesen, aber Reggie kannte ihn nicht. Ihre Mutter war im sechsten Monat schwanger, als er während des Golfkriegs umkam, irrtümlich erschossen von den eigenen Streitkräften, »friendly fire«. Die meisten Menschen waren aus dem Bauch heraus, wenn sie zum ersten Mal Bekanntschaft mit Ironie machten, sagte Reggie zu Ms MacDonald.
    »Das ist Geschichte«, sagte Ms MacDonald.
    »Das sind wir alle, Ms Mac.«
     
    Sowohl Mum als auch Reggie hatten immer Jobs. Mum arbeitete im Supermarkt und bügelte für ein paar Frühstückspensionen, und Reggie arbeitete jeden Sonntagmorgen in Mr. Hussains Laden. Schon bevor sie von der Schule ging, hatte Reggie immer gearbeitet, morgens Zeitungen ausgetragen, irgendwelche Samstagsjobs und so weiter. Sie brachte ihr Geld auf die Sparkasse, kalkulierte bis zum letzten Penny für Miete und Rechnungen, ihr Prepaid-Handy und ihre Topshopkarte. »Deine Versuche häuslicher Sparsamkeit sind lobenswert«, sagte Ms MacDonald. »Eine Frau sollte mit Geld umgehen können.«
    Mum war aus Blairgowrie, und nach der Schule hatte sie als Erstes in einer Hühnerfabrik gearbeitet, ein Fließband mit gänsehäutigen Kadavern überwacht, die in brühend heißes Wasser getaucht wurden. Das hatte für Mum den Maßstab gesetzt, und was immer sie danach tat, sie sagte stets: »Es ist nicht so schlimm wie in der Hühnerfabrik.« Reggie glaubte, dass die Hühnerfabrik ziemlich schlimm gewesen sein musste, denn Mum hatte ein paar grauenhafte Jobs gehabt. Mum liebte Fleisch – Schinkensandwichs, Hackfleisch und Bouletten, Würstchen und Schnitzel –, aber Reggie sah sie kein einziges Mal Huhn essen, auch nicht als der Mann-der-vor-Gary-kam Essen von KFC mitbrachte, und der Mann-der-vor-Gary-kam brachte Mum dazu, so gut wie alles zu tun. Aber nicht dazu, Huhn zu essen.
    Trotz der guten Bildungsaussichten – eine hervorragende Mittlere Reife – war es eine große Erleichterung für Reggie, als sie einen Brief von Mum fälschte und schrieb, dass sie nach Australien zögen und Reggie nach den Sommerferien nicht mehr in die schreckliche piekfeine Schule zurückkehren würde.
    Mum war so stolz gewesen, als Reggie das Stipendium erhielt (»Das Kind ist ein Genie! Mein Kind!«), aber nachdem sie nicht mehr da war, schien es sinnlos, und es war schlimm genug, morgens in die Schule zu gehen, wenn niemand »Auf Wiedersehen« sagte, aber in eine leere Wohnung zurückzukehren, in der niemand »Hallo« sagte, war noch schlimmer. Wer hätte gedacht, dass drei kleine Worte so wichtig sein konnten. Ave atque vale.
    Auch Ms MacDonald ging nicht mehr in die schreckliche piekfeine Schule, weil in ihrem Gehirn ein Tumor wuchs wie ein Pilz.
    Sie wollte ja nicht egoistisch sein, aber Reggie hoffte, dass Ms MacDonald sie durch das Abitur brachte, bevor der Tumor ihr Gehirn vollständig auffraß. Unser NADA , der du bist im NADA , sagte Ms MacDonald. Sie war wirklich verbittert. Von einer sterbenden Person war zu erwarten, dass sie etwas gereizt war, aber Ms MacDonald war schon immer so
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