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Lebenslang

Lebenslang

Titel: Lebenslang
Autoren: Peter Schwindt
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war sie hier. Ich erinnere mich deswegen so gut an sie, weil ich ihren Zopf bewundert habe. Als Kind habe ich mein Haar auch so lang getragen.« Sie zeigt auf die Kasse, die der Feinkosttheke gegenüber ist. »Dort hat sie bezahlt. Die Kassiererin hat aber vor einer halben Stunde gewechselt.«
    »War meine Tochter allein?«, frage ich.
    »Ja. Und sie hatte es sehr eilig.« Die Verkäuferin hebt entschuldigend die Schultern. »Mehr kann ich Ihnen leider auch nicht sagen.«
    »Danke«, sage ich, obwohl ich alles andere als erleichtert bin. Julia hatte sich auf den Heimweg gemacht. Und sie hat bestimmt keinen Stopp bei einer Freundin eingelegt. Nicht mit der schweren Einkaufstüte.
    Ich lasse Frau Schuchardt mit ihrer Entrüstung allein und eile wieder hinaus. Erneut suche ich den Parkplatz ab. Weder an den Altpapiercontainern noch an der kleinen Tankstelle finde ich sie.
    Ganz ruhig. Sammle deine Gedanken und gehe systematisch vor. Möglicherweise hat Julia doch die Abkürzung durch die Neubausiedlung genommen, hinten am Hort, den sie noch in diesem Frühjahr selbst besucht hatte. Und eventuell ist ihr jemand begegnet, den sie kannte! Die Angst, die ich inzwischen habe, sitzt mir wie ein Affe im Nacken.
    Ich fahre wieder zurück, nehme jetzt aber Seitenstraßen und kleine Wege und halte Ausschau nach ihr. In jeder Straße, in die ich biege, hoffe ich sie zu sehen. Vielleicht ist sie hingefallen. Vielleicht ist sie von einem Auto angefahren worden. Vielleicht hat sie sich so sehr verletzt, dass sie nicht weiterlaufen kann. Ich schließe die Augen und sehe Zwiebeln im Rinnstein und vergossene Milch auf schwarzem Asphalt.
    Es hat keinen Zweck, ich muss umdrehen. Vermutlich ist Julia längst zu Hause.
    Wieland öffnet mir, bevor ich den Schlüssel ins Schloss der Haustür stecken kann.
    »Sie ist noch nicht da.« Sein Gesicht ist grau, als er mir das sagt. Er ist Astrids wesentlich älterer Bruder. Dieselbe Nase, dieselben Augen, dasselbe schwarze, langsam ergrauende Haar. Doch im Gegensatz zu ihr ist er stämmig und kräftig. Seine Hände können zupacken. Er besitzt eine kleine Schreinerei im Nachbarort und hat sich auf die Restauration alter Möbel spezialisiert. Ich mag ihn gerne, denn er ist unkompliziert und hilfsbereit – ein häufiger Gast bei uns.
    »Hat Astrid telefoniert?«, sage ich, als ich die Tür hinter mir zudrücke.
    »Mit jedem, der ihr einfiel.« Wieland sieht aus, als sei ihm schlecht. »Niemand hat Julia gesehen.«
    Astrid sitzt zusammen mit den anderen am Esszimmertisch. Sie hat geweint, ihre Augen sind rot. In den Händen hält sie ein Tempotaschentuch. Astrid schaut mich ängstlich an, und als ich den Kopf schüttele, bricht sie erneut in Tränen aus.
    »Ich rufe die Polizei an«, sage ich. Oliver nickt, als sei dies die einzig vernünftige Idee, die man jetzt noch haben könne. Im Hintergrund läuft das WM-Eröffnungsspiel. Ich schalte den Fernseher aus und nehme den Telefonhörer in die Hand. Dann zögere ich.
    »Weiß jemand, welche Nummer die Hanauer Polizei hat?«
    »Nimm die 110«, sagt Robert. »Ich denke, das ist ein Notfall, oder?« Er sieht Claudia an, und die nickt zustimmend.
    Also wähle ich die 110. Es klingelt einmal, dann wird abgenommen. Eine Frauenstimme meldet sich. Ich atme tief durch und versuche, so ruhig und vernünftig wie möglich zu klingen.
    »Mein Name ist Fabian Steilberg, und ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben. Meine zehnjährige Tochter ist nicht nach Hause gekommen.« Ich gebe meine Adresse und die Telefonnummer durch. Die Stimme am anderen Ende der Leitung ist sachlich und vollkommen unaufgeregt. Dann lege ich auf.
    »Sie schicken jemanden vorbei«, sage ich wie betäubt.
    Keiner sagt ein Wort. Alles ist still. Nur die Flugzeuge fliegen im Minutentakt über das Haus. Ich gehe in die Küche und mache mir einen Kaffee. Meine Hand zittert, als ich mir zu viel Milch in die Tasse gebe. Dann setze ich mich zu den anderen an den Tisch und warte. Als es an der Haustür klingelt, zucken wir alle zusammen. Ich springe auf, doch Astrid ist schneller und öffnet.
    Zwei Polizisten in Uniform stehen an der Schwelle. »Frau Steilberg?«, fragt der Mann.
    Astrid nickt.
    »Mein Name ist Frank Schumacher. Das ist meine Kollegin, Polizeikommissarin März. Sie haben wegen einer Vermisstenanzeige angerufen?«
    »Das war ich«, sage ich. »Kommen Sie herein.«
    Rufus kläfft, als die beiden Beamten eintreten. Robert und Claudia stehen auf, um ihnen Platz zu machen. Die
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