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Lebens-Mittel

Lebens-Mittel

Titel: Lebens-Mittel
Autoren: Michael Pollan
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gezwungen, ihre chemischen Geheimnisse preiszugeben. Der Nach-Liebig’sche Konsens, die Wissenschaft wisse jetzt genau, was in der Nahrung los sei, hielt allerdings nicht lange an. Ärzte begannen zu bemerken, dass viele der ausschließlich nach Liebigs Rezept gefütterten Babys nicht gediehen. (Was nicht überrascht, denn seiner Zubereitung fehlten die Vitamine, verschiedene essenzielle Fette und Aminosäuren.) Dass Liebig ein paar Kleinigkeiten in der Ernährung übersehen haben könnte, begann auch jenen Ärzten zu dämmern, die beobachteten, dass Seeleute bei langen Reisen übers Meer oft krank wurden, obwohl sie ausreichend mit Protein, Kohlenhydraten und Fett versorgt wurden. Den Chemikern entging eindeutig etwas – irgendwelche essenziellen Inhaltsstoffe, die in frischer Pflanzenkost (etwa Orangen und Kartoffeln) vorhanden waren und Seefahrer auf wunderbare Weise heilten. Diese Beobachtung führte zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Entdeckung der ersten Mikronährstoff-Serie, die der polnische Biochemiker Casimir Funk 1912 im Rückgriff auf ältere vitalistische Nahrungsvorstellungen »Vitamine« taufte (»vita-« für Leben und »-amine« für organische Stickstoffverbindungen).
    Die Vitamine haben das Prestige der Ernährungswissenschaft gewaltig aufgemöbelt. Diese speziellen Moleküle, die zuerst aus Lebensmitteln isoliert und später in Labors synthetisiert wurden, konnten Nährstoffmängel, die zu Skorbut oder Beriberi geführt hatten, fast über Nacht beheben, und demonstrierten damit auf überzeugende Weise die Macht der reduktiven Chemie. Ab etwa 1920 waren Vitamine in der Mittelschicht groß in Mode – einer Gruppe, die von Beriberi oder Skorbut nicht besonders betroffen war. Trotzdem setzte sich die Überzeugung fest, diese magischen Moleküle würden auch das Wachstum von Kindern, ein langes Leben bei Erwachsenen und, um eine Formulierung der damaligen Zeit zu verwenden, die »positive Gesundheit« bei allen fördern. (Was bitte ist eine »negative Gesundheit«?) Die Vitamine hatten der Ernährungswissenschaft so etwas wie Glamour verliehen, und obwohl bestimmte Elitesegmente der Bevölkerung nun anfingen, so zu essen, wie die Experten empfahlen, verdrängten in der volkstümlichen Vorstellung vom Essen die Nährstoffe die Lebensmittel erst Ende des 20. Jahrhunderts.
    Der Umschwung vom Nahrungs- zum Nährstoffverzehr war nicht von einem Paukenschlag begleitet; rückblickend indes scheint eine kaum bemerkte politische Auseinandersetzung, die 1977 in Washington stattfand, dazu beigetragen zu haben, die amerikanische Kultur auf diesen unseligen und schwach beleuchteten Weg zu führen. In Reaktion auf Berichte über ein alarmierendes Ansteigen chronischer Krankheiten, bei denen ein Zusammenhang zur Ernährung besteht – unter anderem Herzkrankheiten, Krebs, Fettleibigkeit und Diabetes -, hielt der Sonderausschuss des Senats für Ernährung und menschliche Bedürfnisse unter dem Vorsitz des Senators von South Dakota, George McGovern, Anhörungen ab. Der Ausschuss war 1968 mit dem Auftrag gebildet worden, die Unterernährung zu beenden, und seine Arbeit hatte zur Einführung mehrerer wichtiger Lebensmittelhilfeprogramme geführt. Dass er sich jetzt daran machen sollte, die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Ernährung und chronischen Krankheiten zu beantworten, war zwar eine Erweiterung seines Auftrags, aber in Anbetracht der guten Sache blieben Einwände aus.
    Nachdem sich die Ausschussmitglieder – die nicht Wissenschaftler oder Ärzte, sondern Juristen und – ähm – Journalisten waren – zwei Tage lang Aussagen über Ernährung und Killer-Krankheiten angehört hatten, bereiteten sie ein Dokument namens Dietary Goals for the United States (»Ernährungsziele für die Vereinigten Staaten«) vor, von dem sie annehmen mussten, dass es keine Kontroversen auslösen würde. Der Ausschuss erfuhr, dass der Prozentsatz der koronaren Herzkrankheiten seit dem 2. Weltkrieg in Amerika gestiegen war, während bestimmte andere Kulturen, die eine traditionelle, überwiegend pflanzliche Kost zu sich nahmen, auffallend niedrige Prozentsätze bei chronischen Krankheiten aufwiesen. Epidemiologen hatten außerdem beobachtet, dass die Rate bei Herzkrankheiten in den Kriegsjahren, in denen Fleisch und Milchprodukte in den USA streng rationiert waren, vorübergehend absackte, um nach dem Krieg wieder nach oben zu schnellen.
    Seit Anfang der 1950er Jahre ging die wissenschaftliche Meinung zunehmend dahin, dass für
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