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Lebens-Mittel

Lebens-Mittel

Titel: Lebens-Mittel
Autoren: Michael Pollan
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gegessen haben, noch was unsere Mütter uns zu essen gegeben haben, als wir Kinder waren. Historisch gesehen ist das ein ungewöhnlicher Tatbestand.
    Meine Mutter wuchs in den 1930er und 1940er Jahren auf und aß viel von der traditionellen jüdisch-amerikanischen Kost, die typisch war für Familien, die vor kurzem aus Russland oder Osteuropa eingewandert waren: Kohlrouladen, Innereien, Käseplinsen, mit einer Leberfarce oder mit Kartoffeln und Hühnerleber gefüllte Teigtaschen und Gemüse, das oft in ausgelassenem Hühner- oder Gänsefett zubereitet wurde. Ich habe als Kind nichts von alledem gegessen, außer wenn ich meine Großeltern besuchte. Die Menüs meiner Mutter, einer exzellenten und experimentierfreudigen Köchin, waren geprägt von den kosmopolitischen Ernährungstrends im New York der 1960er Jahre (zu ihren Einflüssen gehörten: die Weltaustellung von 1964, Julia Child und Craig Claiborne, Restaurantmenüs in Manhattan und natürlich der lauter werdende Trommelschlag des Lebensmittelmarketings); sie servierte uns Menüs, die im Wochenrhythmus eine kulinarische Reise um die Welt absolvierten: montags Bœuf bourguignon oder Bœuf Stroganoff; dienstags Coq au vin oder (mit einer Kellogs-Cornflakes-Kruste überbackenes) Backofenhähnchen; mittwochs Hackbraten oder chinesisches Pfeffersteak (ja, es gab viel Rindfleisch); donnerstags Spaghetti mit Tomatensoße und Schweinemettwürstchen; und am Wochenende, wenn sie frei hatte, ein Fertiggericht oder ein Essen zum Mitnehmen vom Chinesen. Statt mit Hühner- oder Gänsefett kochte sie mit industriell hergestelltem Backfett oder Öl und verwendete eher Margarine als Butter, denn sie hatte das Ernährungsdogma der damaligen Zeit verinnerlicht, dem zufolge diese moderneren Fette für unsere Gesundheit besser wären. (Ups.)
    Heute essen weder ich noch meine Mutter diese Dinge (ja, auch sie hat sich weiterentwickelt). Ihre Eltern würden die Lebensmittel, die wir auf den Tisch bringen, nicht erkennen, außer vielleicht die Butter, die wieder da ist. Derzeit ändert sich die amerikanische Esskultur öfter als einmal in einer Generation, was historisch beispiellos ist und uns ziemlich durcheinanderbringen kann.
    Welche Kräfte treiben diese unaufhaltsame Veränderung der amerikanischen Ernährung an? Zum einen eine zweiunddreißig Milliarden Dollar schwere Lebensmittelmarketing-Maschine, die von den Veränderungen profitiert. Zum anderen das sich ständig verschiebende Feld der Ernährungswissenschaft, die je nachdem, wie wir es sehen, die Grenzen unseres Wissens über Ernährung und Gesundheit kontinuierlich nach außen schiebt oder andauernd ihre Meinung ändert, weil sie eine mängelbehaftete Wissenschaft ist, die sehr viel weniger weiß, als sie zugibt. Die Esskultur meiner Großeltern wurde zum Teil deshalb vom Tisch der Amerikaner vertrieben, weil die offizielle wissenschaftliche Meinung zu Beginn der 1960er Jahre entschied, tierisches Fett sei eine tödliche Substanz. Und auch die Lebensmittelhersteller spielten eine Rolle, die an den Kochkünsten meiner Großmutter nicht viel verdienten, weil sie so viel selbst machte – sogar ihr Kochfett ließ sie selbst aus. Die Hersteller posaunten die »neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse« laut aus und brachten es fertig, die nächste Generation, das heißt meine Mutter, auf die Vorteile von gehärteten Pflanzenfetten einzuschwören – über die wir jetzt erfahren, dass sie, nun ja, tödliche Substanzen sein könnten.
    Früher oder später scheint alles vermeintlich Verlässliche, das uns über die Zusammenhänge zwischen Ernährung und Gesundheit beigebracht worden ist, vom Wind der allerneuesten Studie hinweggefegt zu werden. Sehen Sie sich die jüngsten Ergebnisse an. 2006 kam die Nachricht, dass eine fettarme Ernährung, der lange eine Krebsschutzfunktion zugeschrieben wurde, diese vielleicht gar nicht besitzt – so die gewichtige, mit US-Bundesmitteln geförderte Women’s Health Initiative; diese Studie stellte genauso wenig einen Zusammenhang zwischen fettarmer Ernährung und dem Risiko für koronare Herzkrankheiten fest. Tatsächlich scheint, wie wir sehen werden, die gesamte orthodoxe Nahrungsfettlehre zusammenzubrechen. 2005 erfuhren wir, dass Ballaststoffe möglicherweise gar nicht dazu beitragen, Dick- und Mastdarmkrebs sowie Herzkrankheiten zu verhindern – was uns jahrelang mit Überzeugung eingeimpft worden war. Und dann kamen im Herbst 2006 zwei gleichzeitig veröffentlichte renommierte Studien
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