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Lebens-Mittel

Lebens-Mittel

Titel: Lebens-Mittel
Autoren: Michael Pollan
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letzte Drittel dieses Buches hätte vor vierzig Jahren wohl unter anderem deshalb nicht geschrieben werden können, weil es damals nur dann die Möglichkeit gab, so zu essen, wie ich hier vorschlage, wenn Sie zurück aufs Land gegangen wären und Ihre Nahrung selbst erzeugt hätten. Es wäre das Manifest eines Verrückten gewesen. Damals stand auf der Speisekarte nur eine einzige Art von Essen, und das servierten Industrie und wissenschaftlich verbrämter Nährstoffwahn nach Lust und Laune. Damit ist jetzt Schluss. Heute haben wir Esser reale Alternativen, und diese Alternativen haben reale Konsequenzen – für unsere Gesundheit, die Gesundheit der Erde und die Gesundheit unserer Esskultur -, drei Faktoren, die unauflöslich miteinander verbunden sind. Dass jemand meint, ein Buch schreiben zu müssen, das den Leuten rät, »esst Lebensmittel«, könnte als Maß unserer Entfremdung und Verunsicherung verstanden werden. Oder wir können es positiver sehen und uns darüber freuen, dass wir jetzt wieder richtige Lebensmittel essen können.

I
     
    Das Zeitalter des Nutritionismus
     

1
     
    Von Lebensmitteln zu Nährstoffen
     
    Wenn Sie sich in den 1980er Jahren in einem Supermarkt aufgehalten haben, ist Ihnen möglicherweise etwas Merkwürdiges aufgefallen. Nach und nach verschwanden die Lebensmittel aus den Regalen. Sie verschwanden natürlich nicht wirklich – ich spreche hier nicht von Engpässen in Sowjetmanier. Nein, die Regale und Kühltheken ächzten weiterhin unter den Paketen, Schachteln und Tüten mit den verschiedensten Esswaren, von denen sogar jedes Jahr mehr ankamen; aber die meisten traditionellen Supermarktlebensmittel wurden langsam, aber sicher durch »Nährstoffe« ersetzt, was nicht dasselbe ist. Wo uns früher die vertrauten Namen wiedererkennbarer Esswaren auf den bunten Verpackungen entgegenleuchteten, die sich in den Regalen stapelten – Begriffe wie »Eier«, »Haferflocken« oder »Kekse« -, traten jetzt in immer größeren Buchstaben neue, wissenschaftlich klingende Begriffe wie »Cholesterin«, »Ballaststoff« und »gesättigtes Fett« in den Vordergrund. Die An- oder Abwesenheit dieser unsichtbaren Substanzen wurde wichtiger als das Lebensmittel an sich und würde den, der es aß, unweigerlich gesünder machen. Die implizite Botschaft lautete: Echte Lebensmittel sind im Vergleich dazu gewöhnlich, altmodisch und total unwissenschaftlich – wer wusste schon, was in ihnen drin war? Die Nährstoffe indes – jene chemischen Verbindungen und Mineralstoffe in der Nahrung, die Wissenschaftler als wichtig für unsere Ernährung erkannt haben – strahlten mit der Verheißung wissenschaftlicher Gewissheit. Essen Sie mehr von den richtigen, weniger von den falschen, und Sie leben länger, beugen chronischen Krankheiten vor und nehmen ab.
    Die Nährstoffe selbst waren als Vorstellung und Begriff seit Anfang des 19. Jahrhunderts bekannt. Zu diesem Zeitpunkt identifizierte William Prout, ein englischer Arzt und Chemiker, die drei wichtigsten Komponenten von Lebensmitteln – Protein, Fett und Kohlenhydrate -, die später als Makronährstoffe bezeichnet wurden. Justus von Liebig, der große deutsche Wissenschaftler, dem die Begründung der organischen Chemie zugeschrieben wird, fügte auf der Basis von Prouts Entdeckung den Großen Drei ein paar Mineralstoffe hinzu und erklärte das Geheimnis der Ernährung von Tieren – wie Lebensmittel zu Fleisch und Energie werden – für gelöst. Liebig identifizierte auch die Makronährstoffe im Boden – Stickstoff, Phosphor und Kalium (die Landwirten und Gärtnern durch ihre Anfangsbuchstaben im Periodensystem der Elemente bekannt sind, nämlich N, P und K). Liebig behauptete, Pflanzen brauchten zum Leben und Wachsen nur diese drei chemischen Substanzen, basta. Genauso wie bei der Pflanze sei es auch beim Menschen: 1842 schlug Liebig eine Stoffwechseltheorie vor, die das Leben ausschließlich anhand einer kleinen Handvoll chemischer Nährstoffe erklärte, das heißt ohne Zuhilfenahme metaphysischer Kräfte, etwa des Vitalismus.
    Nachdem Liebig das Geheimnis der menschlichen Ernährung geknackt hatte, entwickelte er einen Fleischextrakt, der als Bouillon seinen Weg bis in die heutige Zeit gefunden hat, und rührte die erste Milchnahrung für Säuglinge zusammen, die aus Kuhmilch, Weizenmehl, gemälztem Mehl und Kaliumbikarbonat bestand.
    Liebig, der Vater der modernen Ernährungswissenschaft, hatte die Lebensmittel in eine Ecke getrieben und sie
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